Geiselhart, Christina: Paganini – Der Teufelsgeiger. Musik, Mythen und ein Mordverdacht. Ein biografischer Roman. – Höfen: Edition KOCH, 2013. – 461 S.
ISBN 978-3-7081-0521-5 : € 19,99 (kart.)
Literarisches Futter, garniert mit Sex and Crime en masse, wittern Künstlerbiographen und -belletristen mit Vorliebe in Fakten und Legenden aus der Vita des Geigenwunders Niccolò Paganini (1782-1840). Zündende Funken sind oft einzelne Episoden, Romanzen und Affären. Christina Geiselhart, studierte Germanistin und passionierte Literatin mit Wohnsitz und Gesangsaktivitäten in Paris, aber wagte die weitbogige epische Linie von früher Kindheit bis zum posthumen Nachleben und siegte bravourös.
Allein die duale Erzählperspektive – mal die auktoriale Sicht auf den Porträtierten und sein direktes wie auch zeitgeschichtliches Umfeld, dann Paganinis Ich und Innenleben selbst – erhellt das auch in Wahl der Sujets und Präsentation ambitioniert umgesetzte Zentralmotiv: Jedes Kunstgenie, und sieht es sich selbst auch noch so unpolitisch, ist ein Kind seiner Zeit. Auf beiden Ebenen wahrt Geiselhart die Proportionen zwischen langfristigem Ereignisstrom, sprich einer Endlosserie erst regionaler, schließlich europaweiter Konzertreisen, einerseits gegenüber einer Fülle charakteristischer und einschneidender Szenarien andererseits. Ein durchgehend aktivischer, erfrischend unanachronistisch fabulierender Verbalstil sorgt für Dynamik und Farbe in Italianità, Geschehen und Dialog.
Eingeflochten ins mit Bürgern, Adligen und Prominenten bevölkerte Panorama und realistisch weitergedacht sind musik- und kulturgeschichtliche Spezifika, die den Impuls des Virtuosen für die romantische Musikästhetik oder die existentiellen Probleme des schöpferisch Tätigen im Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und den Zwängen des kommerziellen Konzertwesens akzentuieren: das intuitive Aufleuchten neuer Kompositionen samt spieltechnischer Finessen vor dem geistigen Auge, die zirzensische Geigenakrobatik mit Konsequenz eines spektakulären Starkults, umgekehrt die dem enormen Gagensegen abträgliche Selbstfinanzierung (Saalmieten, vorsintflutlicher Urheberschutz) und Bedürftigkeit (hier durch exorbitante Arztrechnungen des notorischen Krankheitsopfers), die Zerreißproben zwischen Nomadendasein und Sehnsucht nach Bodenständigkeit, Familie und Intimität. Nur bedingt erfüllt sich Letztes durch einen detailliert, doch moderat skizzierten Reigen sexueller Exzesse – ein Personenrätsel inklusive. Und fatalerweise entstammt Paganinis über alles geliebter Sohn Achille einer Mesalliance, die es in sich hat.
Wurzelnd in Paganinis Genueser Kindheit unterm Joch eines despotischen Vaters und in dessen Kontakten zur Einigungsbewegung im Vorfeld des Risorgimento, weitet sich eine Melange aus napoleonischem Historiengemälde und Familiensaga um Andrea, Sohn des authentischen Untergrundkämpfers Filippo Buonarotti, zur schicksalhaften Parallelhandlung aus. Bildende Spannung, spannende Bildung!
Andreas Vollberg
Köln, 16.11.2013