Mendelssohn und das Rheinland / Hrsg. von Petra Weber-Bockholdt – München: Fink, 2011. – 243 S.: Abb., Notenbsp. (Studien zur Musik ; 18)
ISBN 978-3-7705-5117-0 : € 29,90 (kt.)
Im vierten Quartal des Mendelssohn-Jahres 2009 fand im mittelrheinischen Koblenz ein nun dokumentiertes Symposium statt, das sich vorsätzlich und hauptsächlich mit Mendelssohns Aktivitäten im Rheinland in den Jahren 1833-35 befasste, als er Musikdirektor der niederrheinischen Stadt Düsseldorf war. Dass das Mendelssohn-Jahr in Deutschland endlich eine Revision resistenter Fehlurteile über den Komponisten gebracht hätte, kann auch fünf Jahre danach mehr gehofft denn festgestellt werden. Einen weiteren Baustein für eine solche längst fällige aber schwer nachhaltig durchsetzbare Revision hält man mit vorliegendem Band in Händen. Gleich der erste Beitrag von Peter Ward Jones geht weit über das Rheinländische hinaus und sucht nach den Ursachen der revisionsbedürftigen Urteile. Er findet sie einleuchtend in der fehlenden Kenntnis von Mendelssohns Werk, das seit dem 19. Jahrhundert weit verstreut, ungedruckt und größtenteils ungespielt blieb. Denn er hat sehr mehr komponiert als vier Sinfonien, zwei Oratorien und Dutzende von Liedern ohne Worte. Erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sind seine 12 Streichersinfonien bekannt geworden. Weiterhin ist vieles unveröffentlicht: Nährboden für Legenden und Vorurteile. Seit 2009 haben wir wenigstens ein komplettes Werkverzeichnis und langsam auch Zugang zu den meisten Quellen, v.a. auch zu seinen Tausenden von Briefen, deren 8. Band gerade erschienen ist. Fazit: wenn die Deutschen ihren Mendelssohn besser kennen würden, könnte kein Musikästhet mehr so leicht behaupten, er wäre ein glatter Klassizist und ohne Tiefe.
Zwei weitere Beiträge verlassen das rheinländische Terrain: Stefan Keym macht mit Mendelssohns bogenförmigem oder zyklischem Umgang mit den beiden Tongeschlechtern Dur und Moll vertraut und weist auf bestehende oder unterstellte außermusikalische Hintergründe „weltanschaulicher“ Art dafür. Lothar Schmidt erläutert den Zusammenhang von Zeit und Erzählung in Mendelssohns Musik, nimmt dazu aber ausgiebig auch die in Düsseldorf komponierte Konzertouvertüre Das Märchen von der schönen Melusine als Vorlage. Mendelssohns Zweifel an der Fähigkeit der Musik, etwas zu schildern und das Geschilderte auch dem Hörer eindeutig zu vermitteln sowie seine Überlegung, ob es da nicht besser wäre, sich in alle mögliche Instrumentalmusik ohne Titel einzumummen und zu verkriechen – wie er an seine Schwester Fanny schrieb ‑ werden zwar erwähnt, aber es wird nicht danach gefragt, ob und wie sich solche Zweifel in seinen Kompositionen niedergeschlagen haben; am 3. Satz der Schottischen Sinfonie könnte man es spüren.
Mit der neben dem Oratorium Paulus wichtigsten aber arg vernachlässigten Komposition der Düsseldorfer Zeit, der Melusinen-Ouvertüre, beschäftigt sich intensiv und überzeugt von der narrativen Potenz der Musik auch Wilhelm Seidel in einem hermeneutischen Beitrag, der exemplarisch die Vorteile eines solchen Verfahrens vorstellt. Seidel kann Schumanns bis heute wirksamen Irrtum, ein bestimmtes Thema des ersten Teils würde die Stimme Melusinens repräsentieren, entkräften und aufzeigen, dass das musikalische Geschehen in dieser Ouvertüre nicht nur abstrakt und allgemein den Kontrast zwischen der ritterlichen Sphäre und der der Nixen darstellt, sondern in ihren formalen, harmonikalen und motivischen Verlauf einen genauen Abklang der Handlung dieses personenbezogenen Märchens präsentiert. Er kann mehr als plausibel machen, dass erst der im zweiten Teil erstmals aufkommende Gesang der Oboe das Liebeslied der Nixe sein kann, während der bisher Melusinen zugeschriebene sehnende Gesang der Geigen im ersten Teil das Liebeswerben des aus der Horde vereinzelten edlen Ritters verkörpert. Schade, dass Seidel die Ursache von Schumanns Fehler nicht darin erkennt, dass auch jener sich im untauglichen Schema einer Sonatensatzform verwirrt, wonach ein so genannter Seitensatz der Exposition immer den Kontrast, die konkurrierende Sphäre vertreten muss. Weil auch Seidel sich nicht davon trennen kann, dieser Ouvertüre das ‑ zwar erweiterte und abgewandelte ‑ Schema einer Sonatensatzform zu unterlegen, muss er widersinniger Weise das neue Lied der Nixe in die so genannte „Durchführung“ verlegen (schon Mozart konnte sich nicht damit abfinden, dass man in ihr keine neuen Themen mehr kreieren dürfe) und den dritten Teil der Ouvertüre, in dem das Resultat des Kampfes, der Untergang beider, in Töne gesetzt wird, als Reprise bezeichnen, inklusive einer zwischen Durchführung und Reprise gesetzten achttaktigen Parenthese der Klarinetten, einer Mitleidsbekundung des Komponisten. Wäre es da nicht besser, zwar eine unüberhörbare Dreiteiligkeit der Anlage anzuerkennen, aber einen wirklichen, von Gliederungs-Kategorien wie Exposition, Durchführung und Reprise unabhängigen Erzählfluss mit bestimmten Zäsuren zuzulassen? Von ganz besonderer Bedeutung sind Seidels Hinweise auf aufführungspraktische Fragen der Ouvertüre: denn nur wer notorisch falsch spielt, kann auf Dauer bei falschen Interpretationen verweilen.
Ralf Wehner fügt hier seiner auch schon andernorts vorgetragenen und gedruckten Darstellung der Düsseldorfer Werke Mendelssohns eine allgemeine Einführung in die Vorzüge des von ihm in mühevoller Kleinarbeit hergestellten Werkverzeichnisses voran, in der er aber wiederum nicht begründen will, warum er es für notwendig hielt, Mendelssohns Œuvre in ausgerechnet 26 Werkgruppen zu unterteilen. Zwei Beiträge befassen sich mit dem zwar in Düsseldorf, aber für Schelbles Frankfurter Cäcilienverein komponierten, dann doch in Düsseldorf unter Leitung des Komponisten uraufgeführten Oratorium Paulus. Dominik Axtmann kann es in die Kultur der von Mendelssohn ungemein geförderten Niederrheinischen Musikfeste einbetten und Siegwart Reichwald demonstriert anhand neu aufgefundenen Stimmenmaterials wie sehr sich die gedruckte Erstfassung noch einmal von der uraufgeführten ursprünglichen Version unterschied. Mit Mendelssohn als unermüdlichen Sucher nach Originalquellen vergangener Musik und damit, welche Rolle seine Wiederaufführungen der kirchenmusikalischen Werke von Händel, Lotti, Pergolesi, Leo und Palestrina für eine historisch informierte Aufführungspraxis spielten, beschäftigen sich die Beiträge von Glenn Stanley und Peter Schmitz. Salome Reiser exemplifiziert am Beispiel der Korrespondenz mit dem Bonner Verleger Simrock wie Mendelssohn vom „Veränderungsteufel“ geritten wurde. Norbert Jers kann anhand der nationalsozialistischen Musikpublizistik im Rheinland aufzeigen, auf welche bereits kursierenden Vorteile die NS-Propaganda aufsockeln konnte und wie sehr die auch nach 1945 anhaltende Mendelssohn-Kritik im Bannkreis des Nazi-Jargons blieb. Uwe Baur dröselt abschließend die Fäden noch einmal auf, die Mendelssohn speziell mit Koblenz und Umgebung verbanden.
Insgesamt gesehen war das eine für die Mendelssohn-Forschung wie auch das breitere Mendelssohn-Verständnis gewinnbringende Tagung, die glücklicherweise den Weg zum Buch gefunden hat.
Peter Sühring
Berlin, 29.10.2013