Nikolaus Harnoncourt: Mozart-Dialoge. Gedanken zur Gegenwart der Musik / Hrsg. von Johanna Fürstauer. – Kassel: Bärenreiter, 2009. – 367 S.
ISBN 978-3-7618-1990-6 : € 14,95 (kart.)
Man wird dieses Buch, eine Sammlung von Interviews, Reden und Aufsätzen, nicht in eine Reihe stellen wollen mit Harnoncourts klassisch gewordenen Bänden über Musik als Klangrede oder den musikalischen Dialog – dazu wird hier zu viel kulturpessimistisches Geschwätz breitgetreten. Die ganze Hochnäsigkeit vieler gegen heutigen Zeitgeist gerichteter Urteile im ersten Teil des Bandes, der mit „Gedanken zur Gegenwart der Musik“ überschrieben ist, kommt anhand eines historischen Beispiels zum Vorschein, wenn Harnoncourt behauptet, der erste erfolgreiche Auftritt Rossinis in Wien habe in Stunden alles zunichte gemacht, wofür Beethoven jahrelang gekämpft habe. Das soll die historisch abfallende Linie von Substanz zu Seichtigkeit verkörpern. Überhaupt mache, so Harnoncourt, erst die Kunst (aus der er offensichtlich Rossini ausgeschlossen haben möchte) den Menschen zum Menschen oder zum besseren Menschen. Man fragt sich bloß, wie die früher angeblich kunstbeflisseneren Kulturnationen Europas dazu kamen, sich in zwei Weltkriegen gegenseitig abzuschlachten. Noch nie hat Notenlesenkönnen oder das Hören einer Beethoven-Sinfonie jemanden davon abgehalten, böse zu sein – eher hat Beethovens Musik sich ganz gut dazu geeignet, verbrecherische Handlungen zu untermalen oder zu übertönen – was man von Rossini weniger behaupten kann. Und wenn sich jemand in Salzburg die zeitgeisthörige popkulturelle Verseichtung von Purcells King Arthur durch Flimm/Harnoncourt angeschaut hat, warum sollte der ein besserer Mensch geworden sein? In diesen hier nachgedruckten Interviews versucht ein arrivierter Künstler sein schlechtes Gewissen über seine Anpassung an den Musikbetrieb mit pseudoradikalen Attacken abzureagieren. Unbedingt wert, nochmal zwischen Buchdeckel gepackt und gelesen zu werden, ist das eigentlich nicht.
Der erste Teil macht aber auch klar, was für ein Irrtum es war, Harnoncourt jemals als einen doktrinären Repräsentanten einer sogenannten historischen Aufführungspraxis zu sehen, der es ja um die Illusionen von „Authentizität“ und „Originalklanglichkeit“ geht. Eindringlich weist Harnoncourt darauf hin, dass das Spielen auf alten Instrumenten, wenn’s hoch kommt, erst die halbe Miete ist. Ganz pragmatisch geht er davon aus, dass sich eine von ihm angestrebte, unserer Zeit gemäße Interpretation älterer Musikwerke, eine, die etwas vergegenwärtigt, was er deren „Werkidee“ nennt, „am einfachsten“ auf den Instrumenten realisieren ließe, für die sie komponiert wurden. Das macht ihn wiederum sympathisch.
Die der Interpretation Mozarts und einzelnen seiner Werke gewidmeten Gespräche und Artikel in den beiden folgenden Abschnitten des Buches, die den Löwenanteil ausmachen, sind von anderem Kaliber. Hier erweist sich der Pudding beim Essen, und viele Ansichten Harnoncourts zu einzelnen Details werden (ihre Fehler inklusive) immer wieder herangezogen werden, denn sie beruhen auf Aufklärungen, die er anhand der Quellen vornehmen wollte.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 354f.