Schanze, Helmut: Goethe-Musik. – München: Wilhelm Fink Verlag, 2009. – 142 S.: Abb.
ISBN 978-3-7705-4912-2 : € 23,90 (kt)
Goethe und kein Ende. Das ist kein Stoßseufzer, sondern eine positive Feststellung. Hier haben wir es nicht mit einem der sattsam bekannten Bücher nach dem Muster „Goethe und“ zu tun, sondern mit einem Versuch, Goethe mit Musik so eng zu verknüpfen, dass ein bestimmtes Genre von Musik, eine bestimmte Art des Verstehens von Musik Goethisch wird. Der Autor, schon seit den 1970er Jahren damit befasst, Literaturwissenschaft, speziell die Germanistik, um Fragen der Rhetorik und Medienkunde zu erweitern, will hier eine musikalische Rhetorik durch das Medium Goethe gewinnen oder aus dessen dichterischem und theoretischem Denken herausfiltern. In wie weit dabei spekulative Gewaltanwendung vonnöten ist, zeigt sich relativ schnell. Und so teilt sich dieses Buch in eine anfängliche metaphysische Vorausahnung oder Hypothese, die nicht bewiesen, sondern nur beschworen werden kann, und mehrere Einzelstudien über Goethes Verhältnis zu sechs zeitgenössischen Musikern, die den vorgegeben Axiomen nicht standhalten und ‑ dem Autor sei’s gedankt ‑ denen sie auch nicht übergestülpt werden.
Auch Schanze geht selektiv vor, er berücksichtigt zwar Goethes sonst gerne vernachlässigten Entwurf einer Tonlehre, aber er übergeht Goethes die Musik betreffenden Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Rameaus Neffe, in denen er sich, fast möchte man sagen: global mit Musik auseinandersetzt und sich auch auf außerdeutsche Diskussionen bezieht. Auch ist der Siebente, mit dem Goethe im Bunde stand, Johann Friedrich Reichardt, hier bewusst ausgespart, weil er nur die uninteressante mittlere, sich dem Lied anschmiegende Kompositionsebene repräsentieren würde und keine Bedeutung hätte für die von Goethe aufgeworfenen zentralen Fragen: jene nach einer Melodie vor allem Text und jene nach den vom Liedtext hervor gelockten bedeutenden neuen Melodien. Ob man damit Reichardts Bedeutung, der ja auch ganze Singspiele Goethes vertonte, gerecht wird, scheint zweifelhaft. Dass die Jenaer Balladen-Diskussionen Carl Loewes mit Goethe nicht besprochen werden, scheint noch bedenklicher, denn Loewes Goethe-Vertonungen wären nun wirklich, wie die Beethovens und Schuberts, auf die höhere Ebene der bedeutenden neuen Melodien zu rücken.
Die von Schanze vorgenommene vorsätzliche Engführung des Problems auf eine romantische Poetik des Liedes, in deren Umfeld Goethes gesamte Musikästhetik angesiedelt sei, zwingt ihn zu einer anschließenden Überhöhung. Denn er erkennt in ihr den Mikrokosmos einer universalen Musiktheorie Goethes, wovon wohl kaum die Rede sein kann. An keiner Stelle von Schanzes Einleitung wird eine wirklich argumentative Brücke geschlagen von Goethes romantischer Liedtheorie zu seiner allgemeinen Musikästhetik. Ihre plötzliche Ineinssetzung ist nicht hergeleitet, wird nur wortreich suggeriert, um das missing link zu vertuschen. Denn Musik ist mehr als Melodie, und selbst das Kunstlied zu Goethes Zeiten kann mit der alten Monodie und allen an sie geknüpften Spekulation über Urmelodien und deren göttlicher Herkunft nicht sinnvoll in Beziehung gesetzt werden. Mit unverbunden eingeführten Theorien über göttliche Inspiration kommt man zwar Goethe scheinbar näher, vergisst aber die historische Relativität seines Standpunkts. Die Emanzipation der Musik von der Sprache und damit von der Dichtung, wurde schon durch die Erfindung der Mehrstimmigkeit (und das hieß von Anfang an: unterschiedlich betexteter verschiedener Stimmen) unumkehrbar gemacht und durch die Dominanz der Instrumentalmusik (und damit des Rhythmus und der Harmonik über Melodie, Gesang und Kantabilität) besiegelt. Goethe war Zeuge dieses Prozesses, daher seine ambivalenten und widersprüchlichen Äußerungen zur Musik, denen Schanze mit seinen aufgestellten Gleichungen: Musik ist Sprache, Musik ist Bild und Musik ist Natur (resp. Gott) nicht mehr gerecht werden kann.
Außer dieser problematischen Einleitung enthält dieses Buch aber sechs sehr lesenswerte Porträts des Verhältnisses Goethes zu Mozart, Zelter, Beethoven, Schubert, Mendelssohn und Schumann, in dem viel korrigiertes und korrigierendes Tatsachenmaterial ausgebreitet wird und die oben angesprochenen Überhöhungen nur noch leise mitspielen.
Peter Sühring
27.06.2013