Hidden Tracks. Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik / Hrsg. von Thorsten Schüller und Sascha Seiler [Michael Stapper]

Hidden Tracks. Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik / Hrsg. von Thorsten Schüller und Sascha Seiler. – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. – 218 S.
ISBN 978-3-8260-4667-4 : € 29,80 (Pb.)

Der „hidden track“ ist ein Geistertitel auf digitalen Tonträgern. Gut versteckt am äußersten Ende, vom offiziellen Tracklisting durch minutenlange Stille getrennt, überrascht er den Hörer mit einer unverlangten Zugabe. Es scheint nahe liegend, dieses verspielte Element einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch die Herausgeber der vorliegenden Sammlung Hidden Tracks schlagen erst einmal einen gehörigen Haken. Denn auf die gebräuchliche Verwendung des Begriffs wird nur beiläufig eingegangen (S. 106f). Stattdessen offenbaren Thorsten Schüller und Sascha Seiler (die beide an der Universität Mainz beschäftigt sind) ein Kaleidoskop von Themen, Künstlern und Thesen, das in dieser Bandbreite erstaunlich und anregend ist.
Ihrem Forschungsgegenstand nähern sich die Herausgeber (nach einer poetischen Themenvariation von Tom Liwa, ehemals bei den Flowerpornoes) zunächst über einzelne Künstler, die sich einer konkreten Identifizierung bewusst entzogen und den Vorgang des Entschwindens zum Konzept erhoben haben. Der amerikanische Musiker Jandek, auf dessen Fährte J. Engelmann angesetzt wurde, bietet eine dieser verstörenden und faszinierenden, jegliche Erwartungshaltung seiner Fans ignorierende Lebens- und Werkgeschichte. Ähnliche Mechanismen sind auch bei Holger Hiller (von T. Huber porträtiert) oder Die Tödliche Doris (J. C. Heller) zu finden. Als Beispiel aus jüngerer Zeit hat sich B. Specht PeterLicht vorgenommen. T. Schüller widmet sich mit Blick auf den afrikanischen Pop- und Protestsong dagegen den Künstlern, die den Rückzug aus der Öffentlichkeit nicht freiwillig vollzogen haben. Materialbezogen nähert sich M. Wieland anschließend dem Thema, indem er die Veröffentlichungspolitik von Single-B-Seiten offenlegt. Weitere viel versprechende Spuren führen zu Albumformaten (R. Dombrowskis und A. Schumanns Sicht auf Konzeptalben) und Textinhalten (Gesellschaftskritik bei Ray Davies, untersucht von J. G. Pankau), die aus dem öffentlichen Bewusstsein langsam verschwinden. Die letzten vier Aufsätze beschäftigen sich mit solch unterschiedlichen Themen wie dem Konzept von Raum und Erinnern bei The Arcade Fire (S. Seiler), der Sexualität in Texten Morrisseys (J. Pottbeckers), der textlichen Verarbeitung des Todesmotivs (T. Hoffmann) und der Darstellung der Shoah im Chanson (T. Obergöker).
Eine neue und „inoffizielle Geschichtsschreibung der Popkultur“, so einer der Ansprüche der Herausgeber, liegt mit dieser Sammlung zwar noch nicht vor. Aber sollte es sie geben – und das Potential hierfür ist eindrucksvoll bestätigt worden – wäre der Grundstein gelegt. Man denke nur an die Kostümierungen von Kiss, Playback bei Milli Vanilli, rückwärts eingespielte Botschaften und die vielen anderen verborgenen Spuren, die es aufzuspüren lohnte.

Michael Stapper
München, 05.10.2012

 

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