Franz Xaver Niemetschek, der zeitgenössische Mozart-Biograph

Franz Xaver Niemetschek: Ich kannte Mozart. Die einzige Biographie von einem Augenzeugen. Wiedergabe des Erstdrucks von 1798 samt den von E. Rychnovsky in seinem Nachdruck von 1905 erstellten Lesarten und Zusätzen zur 2. Aufl. von 1808 / Hrsg. und komment. von Jost Perfahl – München: LangenMüller, 2005 – 128 S.
ISBN 3-7844-3017-1 : € 14,90 (geb.)

Franz Xaver Niemetschek: Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart. Die erste Biographie. Reprint der Ausgabe Prag 1808 / Hrsg. mit einer Einf. von Claudia Maria Knispel – Laaber: Laaber, 2005 – XVII, 118 S.
ISB
N 3-89007-648-3 : € 19,80 (geb.)

Zwei parallel erschienene Neuauflagen der frühesten, selbständig herausgegebenen Mozart-Biographie eines Zeitgenossen Mozarts, des böhmischen Philosophieprofessors, Literaturkritikers und Musikenthusiasten Franz Xaver Niemetschek (1766–1849) laden zum Vergleich ein. Niemetscheks Werk selbst braucht hier nicht erneut rezensiert zu werden; es ist heute noch historisch von Bedeutung, denn es versammelt, aufgrund damaliger Befragungen von Familienangehörigen und Augenzeugen, bereits den Grundstock der meisten unangefochten verbürgten Tatsachen, wie auch einiger legendärer Ausschmückungen von Mozarts Leben. Es ist im Rahmen der ersten Welle von Musiker-Biographien zu sehen, die uns am Anfang des 19. Jahrhunderts auch Forkels Bach und Griesingers Haydn bescherte. Niemetscheks Haltung und Sprache ist, besonders in der 1. Aufl., undifferenziert schwärmerisch, er schreibt aus einer böhmischgeprägten Mozart-Verehrung heraus und entwickelt einen zeittypischen Mozart-Kanon, der sich an dessen Spätwerk orientiert. Zu vergleichen sind die Editionsprinzipien der beiden Ausgaben und die Leistungen der Herausgeber. Die Aufmachung des von Jost Perfahl herausgegebenen Nachdrucks der 1. Aufl. von 1798 macht einen etwas unseriösen Eindruck, sind doch im (wohl von einem Marketing-Strategen des Verlags) reißerisch erfundenen Titel und im hinzugesetzten Untertitel zwei unbeweisbare Behauptungen enthalten. Daß Nietmetschek Mozart persönlich gekannt habe, wird von der heutigen Forschung verneint; daß er ein Augenzeuge Mozarts war (etwa als junger Mann bei dessen Prager Auftritten), ist gerade nicht zu erweisen. Zwar gibt diese Ausgabe tatsächlich den Text der 1. Aufl. und in einem Anhang eine fast zuverlässige Auflistung der Differenzen zur 2. Aufl. von 1808 wieder, übernimmt aber die Kapitelüberschriften der 2. Aufl. anstelle der ursprünglichen bloßen Numerierung. Der Herausgeber ist in seinem Nachwort bemüht, der Behauptung Niemetscheks, er sei Mozart immerhin flüchtig begegnet, ein großes Gewicht beizulegen. Sein Stellenkommentar ist für das richtige Verständnis bestimmter Umstände der damaligen Zeit recht nützlich. Der von Claudia Maria Knispel herausgegebene, faksimilierte Reprint der 2. Aufl. von 1808 bietet schon durchs gewählte Reproduktions-Verfahren einen authentischen Text dieser von Niemetschek selbst verbesserten und erweiterten Ausgabe seiner Biographie. Aber auch hier konnte der Verlag es nicht unterlassen, eine kleine Halbwahrheit in den erfundenen Untertitel, der das äußere Cover ziert, einzuschmuggeln. Nur wenn man Schlichtegrolls längeren Nekrolog auf Mozart im 2. Band seiner Sammlung „Nekrolog der Deutschen“ (Gotha 1893) allzu großzügig übergeht, kann man behaupten, Niemetscheks Werk sei „die erste Biographie“ Mozarts. Knispel gibt in ihrem Vorwort eine treffende Darstellung der Bedeutung des Autors für die gesamte Mozart-Historiographie. Man ist mit beiden Ausgaben gut, aber unterschiedlich bedient, die erste eignet sich mehr für Leser, die aktueller Erläuterungen bedürfen, die zweite eher für diejenigen, die bereits aus heutiger kritischer Sicht gut genug über Mozart informiert sind, um sich an einem typographisch authentischen Nachdruck einer historisch interessanten, aber überholten Biographie zu erfreuen.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 276f.

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