Wilcock, John: Die Autobiografie und das Sexleben des Andy Warhol / Hrsg. von Christopher Trela. Fotos von Shunk-Kender. Übers. von Alan Tepper – Höfen: Hannibal, 2012. – 256 S.: zahlr. Fotos
ISBN 978-3-85445-362-8 : € 39,99 (geb.)
Vom Titel sollten sich die Leser nicht täuschen lassen. Andy Warhol hat kein einziges Wort in diesem Buch geschrieben. Ein Etikettenschwindel sozusagen, auch wenn sich der Künstler auf dem Cover im Bett liegend und mit halb entblößtem Oberkörper dem Betrachter zuwendet. Im Inneren geht es doch sehr sittsam zu. Wenn Warhol also weder über sich noch über sein Liebesleben schreibt, worum handelt es sich dann bei der Publikation? Kurz gesagt: Um eine Sammlung von Interviews, die ein gewisser John Wilcock mit Bekannten und Freunden des Künstlers geführt hat.
Vor gut 20 Jahren fand der Journalist Christopher Trela auf einem Flohmarkt ein unscheinbares Buch: The Autobiography and Sex Life of Andy Warhol. Die bibliografischen Informationen beschränkten sich auf die Nennung des Autors, John Wilcock, einen Copyright-Hinweis für die Fotografien (Shunk-Kender), die Jahreszahl 1971 und den Namen eines Verlags. Trela, einem Bewunderer Warhols, war dieses Werk unbekannt und selbst in den gängigen Literaturverzeichnissen über den Künstler fanden sich nur sporadische Hinweise. Über den Autor John Wilcock gab es ebenfalls nur Randnotizen zu recherchieren, auch wenn dieser, wie Trela später herausfand, als Journalist ein umfangreiches Werk als Mitbegründer der New Yorker Wochenzeitung Village Voice vorweisen konnte. Mit der Gewissheit, einen lange vergessenen Schatz gehoben zu haben, entschloss Trela sich zu einer Neuausgabe des Buches. Er suchte den Kontakt mit Wilcock, der eine ausführliche Einleitung zur Entstehungsgeschichte der „Autobiografie“ beisteuerte, und mit dem Fotografen Harry Shunk, der nicht nur das originale Bildmaterial zur Verfügung stellte, sondern darüber hinaus eine große Auswahl weiterer Fotos aus dem Umfeld von Andy Warhol.
Und so liegt der Flohmarktfund jetzt als opulente Neuauflage vor. 25 Interviews findet der Leser, die Wilcock Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit Künstlern, Journalisten, Filmschaffenden und weiteren Bekannten aus dem Umfeld Andy Warhols geführt hat: Charles Henri Ford, Gerard Malanga, David Bourdon, Naomi Levine, Nico, Lou Reed und viele andere. So umfangreich und vielschichtig Warhols Gesamtwerk ist, so unterschiedlich sind auch die Reflexionen durch die Menschen, die Warhol beruflich oder privat nahestanden. Für Wilcock war Warhol ein Mysterium; der Aufklärung sind jedoch auch nach der Lektüre der Gespräche Grenzen gesetzt. Denn die einzelnen Mosaiksteinchen, die die Gesprächspartner beisteuern können, bleiben unscharf – ein Umstand, der Warhol sicherlich gefallen hat.
Michael Stapper
München, 20.01.2012