Anna Mahler. Ich bin in mir selbst zu Hause. / Hrsg. v. Barbara Weidle u. Ursula Seeber. – Bonn: Weidle in Koop. mit d. Österreichischen Exilbibliothek, 2004. – 240 S. : 162 Abb. –
ISBN 3-931135-79-9 : € 25,00 / SFr 44,70 (fadengeheft. Brosch.)
Anna Mahler (1904–1988), Tochter von Gustav und Alma Mahler, ist eine faszinierende Gestalt der Kulturgeschichte. Ihre Persönlichkeit zog ihre Zeitgenossen durch Schönheit und Klugheit in ihren Bann. Elias Canetti hat ihr in seiner Autobiographie Das Augenspiel ein literarisches Denkmal gesetzt, Robert Neumann porträtierte sie in seinem Exilroman The Inquest (Bibiana Santis), Marlene Streeruwitz im Roman Nachwelt.
Anläßlich Anna Mahlers 100. Geburtstag am 15. Juni 2004 entstand auf der Grundlage langjähriger internationaler Recherchen der Kunsthistorikerin und Journalistin Barbara Weidle eine Ausstellung, die im Literaturhaus Wien gezeigt wurde. Sie beleuchtete einzelne Aspekte dieses an Spannungen und Erlebnissen reichen Lebens, das von Wien über das Londoner Exil nach Los Angeles und Spoleto nahe Rom führte. Gleichzeitig erschien die vorliegende Publikation, die die vielen Facetten der Protagonistin aus unterschiedlichen Blickwinkeln biographisch, kunsthistorisch, literaturhistorisch, politisch und musikalisch beleuchtet.
Ein richtiges Kinderleben führte Anna nicht. Als sie drei Jahre alt war, starb ihre ältere Schwester, als sie sieben war, ihr Vater. Der Tod des berühmten Vaters bedeutete einen tiefen Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Ihre Mutter zog mit ihr in eine neue Wohnung, und von nun an musste sie ihre exzentrische Mutter mit wechselnden Liebhabern und Ehemännern teilen, was sich sicherlich prägend auf ihr eigenes späteres Leben ausgewirkt hat (Ihre erste Ehe schloß sie schon mit 16 Jahren!).
Musik war ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Sie spielte Cello und Klavier. Sie fertigte Klavierauszüge der Sinfonien ihres Vaters an, ebenso wie Klavierauszüge der Werke ihres zeitweiligen Ehemanns Ernst Krenek. Ihre Arbeit wurde in Fachkreisen hoch gelobt und teilweise sogar verlegt. Später war sie als Korrepetitorin ihres damaligen Mannes Anatole Fistoulari tätig. Trotz ihrer musikalischen Begabung entschied sie sich ganz bewußt für eine Laufbahn als bildende Künstlerin. Fritz Wotruba begleitete sie als wichtiger Ratgeber auf ihrem Weg zur Bildhauerei. Diese war die einzige wirkliche Konstante im rastlosen Leben Anna Mahlers, und so nimmt Barbara Weidles Beitrag über Anna Mahler als Künstlern den breitesten Raum ein (S. 168–214). „Meine Bildbauerei ist eine Disziplin, in der man alles braucht: den Körper, Intelligenz, Gefühl. Das Glück, das ich daraus gezogen habe, hat mir sogar Schuldgefühle verursacht“, gestand sie 1984 in einem Interview (S. 168). Obwohl weitgehend außerhalb des Kunstbetriebs entstanden, hat ihr Werk einen sicheren Platz in der Geschichte der modernen Skulptur. Daß sie nur in der zweiten Reihe der Künstler des 20. Jhs. stand, dass sie isoliert war, schmerzte sie. Hatte sie in früheren Jahren die Frage der Notwendigkeit eines Zuhauses mit der Antwort „Ich bin in mir selbst zu Hause“ abgelehnt, so erwies sich diese Haltung jetzt als Nachteil. Rückwirkend schreibt sie es der Tatsache zu, dass wegen ihres häufigen Wohnort- (und damit verbunden Landes-) wechsels kein Land sie für sich reklamieren konnte. Ein besonders faszinierendes Kapitel bilden die zum erstenmal publizierten Briefe Anna Mahlers aus London an ihre Mutter (1945 und 1947).
Trotz der Anrede „geliebtes Mamili“ spricht aus den Zeilen das problematische Verhältnis zur Alma Mahler-Werfel. Erst deren Tod im Jahr 1984 bedeutete so etwas wie eine Befreiung von der übermächtigen Mutter.
Leider werden die Briefe nahezu unkommentiert abgedruckt, so dass der Leser sich den Kontext selber erschließen muß. Auch bei der Bezeichnung der Bildtitel hätte man sich etwas mehr Mühe geben können. Sie sind nicht immer eindeutig platziert.
Die Beiträge zeigen Anna Mahler als Protagonistin einer reichen Kultur- und Kunstepoche: Nicht nur ihre Biographie, ihre fünf Ehen u.a. mit dem Verleger Paul Zsolnay, dem Komponisten Ernst Krenek, dem Dirigenten Anatole Fistoulari und dem Regisseur und Autor Albrecht Joseph, auch ihr bildhauerisches Werk zeigt ihre starke Tendenz zur Vernetzung der musikalischen, literarischen und künstlerischen Szenen ihrer Zeit.
Als Quasi-Bonnerin möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse der mit einer Preissumme von 26.000 € dotierte Kurt-Wolff-Preis Stephan Weidle, dem Inhaber des gleichnamigen Verlages, überreicht wurde. In der Laudatio hieß es u.a.: „So lassen sich Stefan Weidles Ausgrabungen – und ebenso Barbara Weidles großartiges Buch über die Bildhauerin Anna Mahler – auch als Elemente eines allmählich neu zusammengefügten Kosmos verstehen, ein eigenwilliges Bild einer Generation von Künstlern und ihrem Schicksal in der Heimat und im Exil.“ Herzlichen Glückwunsch!
Jutta Lambrecht
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 451ff.