Paul Sacher – Facetten einer Musikerpersönlichkeit / Hrsg. von Ulrich Mosch – Mainz: Schott, 2006. – 312 S.: Abb. (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung ; 11)
ISBN 3-7957-0454-5 : € 24,95 (geb.)
Man wagt sich gar nicht vorzustellen, wie anders und wieviel ärmer die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ausgesehen hätte ohne Paul Sacher. Seine vielfältigen musizierpraktischen und institutionellen Aktivitäten werden in diesem Band, anläßlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2006, in fünf Beiträgen von Martin Kirnbauer (Alte Musik), Ulrich Mosch (Schallplatte), Friedrich Geiger (Tonkünstlerverein), Siegfried Schibli (Musikvermittlung) und Hans Jörg Jans (Paul Sacher Stiftung) beschrieben und dokumentiert. Sacher interessierte sich vornehmlich für außerhalb des Kernrepertoires des etablierten Musikbetriebs liegende, verschollene, selten gespielte und vor allem noch unkomponierte Werke. In deren Aufführung und archivarische Aufbereitung investierte er sein nicht geringes Vermögen, das er durch seine Teilhabe an dem Pharmakonzern Hoffmann-LaRoche erwarb.
Dieser Schweizer Dirigent und Musikmäzen hat über Jahrzehnte mit Hilfe zweier von ihm gegründeter und geleiteter Ensembles, des Basler Kammerorchesters und des Collegium Musicum Zürich, eine Unzahl von zeitgenössischen Werken in Auftrag gegeben, die sonst wohl nicht komponiert worden wären (darunter bedeutende Werke von Stravinsky, Hindemith, Bartok, Honegger, Martinu, Henze und Rihm). Darüber gibt ein 15seitiges Verzeichnis nach Komponistenalphabet Auskunft. Erstes auffindbares Uraufführungsdatum: 1931, letztes: 2002. Oftmals waren diese Aufträge – vor allem während der Wirren des 2. Weltkriegs – für die Komponisten quasi lebensrettende Maßnahmen. Auch eine große Anzahl historischer Tonträgeraufnahmen von den Uraufführungen dieser Werke sind gleichzeitig entstanden. Dies wird in der beigefügten Diskographie dokumentiert. Seit dem Ankauf des Nachlasses von Stravinsky werden in der von Sacher gegründeten und nach ihm benannten Stiftung weitere Nachlässe von Zeitgenossen, sowie Korrespondenzen und Aufführungs-Dokumente archiviert, darunter schon zu Lebzeiten die Nachlässe von Kurtag und Rihm.
Auch für die Rückgewinnung alter Musik aus der Zeit vor Bach hat Sacher unermeßliches getan. Seine schon aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammenden Bemühungen um die Wiederaufführung verschollener Werke führten bereits 1933 zur Gründung einer Unterrichtsstätte für adäquate Aufführungspraxis alter Musik in Theorie und Praxis, der bis heute existierenden Schola Cantorum Basiliensis, aus der mehrere, weltweit tätige Generationen von Spezialisten hervorgegangen sind. Schon aus den dreißiger Jahren existieren Tonaufzeichnungen von Werken alter Meister wie Finck, Senfl, Krieger, Hassler, Praetorius und Schütz, für die sich sofort der in Paris wirkende Curt Sachs für seine Anthologie sonore interessierte.
Der Band dokumentiert darüber hinaus Sachers durchaus nicht konfliktfreies Wirken im Schweizer Tonkünstlerverein. Fünf gehaltvolle Gespräche mit Sacher geben einen lebendigen Einblick in die Anschauungen und Arbeitsweisen dieses unermüdlichen Musikvermittlers. Allein der beigefügte Anhang aus Werkverzeichnis und Diskographie spräche schon für sich. Schon zu Lebzeiten war Sacher klar, daß sein der Moderne und der Avantgarde gewidmetes praktisches und dokumentarisches Wirken für das Musikleben des 20. Jahrhunderts einmal klassische Bedeutung haben wird. Schon heute ist dies anhand dieses schön ausgestatteten Bandes absehbar.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 28 (2007), S. 193f.