Gülke, Peter: Dirigenten. – Hildesheim: Olms, 2017. – 292 S. (7 s/w Fotos)
ISBN 978-3-487-08589-0 : € 22,00 (geb.)
Der Beruf des Dirigenten, wie er heute bekannt ist, hat sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt, und lange Zeit begegnete man mindestens einigen der größten Persönlichkeiten mit fast religiöser Ehrfurcht. Sie gebieten mit praktisch unbegrenzter Machtfülle über einen hundertköpfigen Klangkörper und sind doch die einzigen der Mitwirkenden, die keinen Ton erzeugen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die allgemeine Wertschätzung auf ein etwas „normaleres“ Maß reduziert, doch der hohe Respekt vor den „Orchesterdompteuren“ ist geblieben. Weil Peter Gülke nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch selbst in diesem Metier tätig ist, darf man von seinem Buch aufschlussreiche Einlassungen erwarten, und in der Sache wird man auch nicht enttäuscht.
Allerdings muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass hier kein Personenlexikon vorliegt, wie man ohne weiteres aus der allgemeinen und irreführend knappen Form des Titels vermuten könnte. Dabei wäre eine erhellende Ergänzung – etwa „25 Essays“ – leicht zu finden gewesen. Es handelt sich nämlich um eine Sammlung von Aufsätzen, die Gülke zwischen 1996 und 2016 unter anderem in Fachzeitschriften, Fest- und Gedenkschriften sowie Tageszeitungen veröffentlicht hat; zwei für den Band offenbar neu verfasste Kapitel kommen hinzu. Da die Texte zu verschiedenen Anlässen geschrieben worden sind (darunter eine Laudatio und ein Nachruf), richten sie sich mal an fachkundige Leser, mal an ein größeres Publikum, was sich auf ihre Gestaltung auswirkt. Der Zusammenstellung haftet deshalb etwas Zufälliges an.
Nach einem Kapitel, in dem Gülke die geschichtliche Entwicklung dieses Berufes zusammenfasst, beginnt er mit Hans von Bülow, dem ersten Pultstar von Weltgeltung. Es folgen mit Gustav Mahler (zwei Beiträge) und Richard Strauss Repräsentanten des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, worauf Arturo Toscanini, Felix Weingartner, Wilhelm Furtwängler (drei Beiträge) und Hermann Abendroth eine Brücke zur Jahrhundertmitte schlagen. Mit Eugen Jochum, Rudolf Kempe, Herbert von Karajan (drei Beiträge), Günter Wand, Kurt Sanderling und Igor Markevich sind Repräsentanten vertreten, die nun zunehmend auf den Tonträgermarkt setzten; Erich Kleiber, Kurt Masur und Nikolaus Harnoncourt bilden den Abschluss. Bis auf Joseph Trauneck hat Gülke zwar lauter Zelebritäten berücksichtigt, aber die gehören ganz überwiegend zur deutschen Tradition. Die hat dieses Metier zwar stark geprägt, aber natürlich eröffnen sich auch hier große Lücken (von Hans Richter über Bruno Walter und Otto Klemperer bis Christoph von Dohnany).
Gleichwohl vermittelt die Aufsatzsammlung äußerst aufschlussreiche Erläuterungen über die einzelnen Charaktere und deren nachschöpferische Eigentümlichkeiten. Gülke unterstreicht dabei einmal mehr, dass das Dirigieren zu einer der faszinierendsten Tätigkeiten gehört, die es im Kulturbereich gibt. Obwohl also einige „weiße“ Stellen vorhanden sind, ergeben die Fallstudien wie in einem Mosaik ein Gesamtbild, das nicht alle Facetten abdeckt und doch grundlegend informiert.
Georg Günther
Stuttgart, 17.10.2017