Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen [Peter Sühring]

Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen / Hrsg. von Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch. – Bielefeld: transcript, 2016. – 315 S.
ISBN 978-3-8376-3257-6 : € 34,99 (kt.)

Selbst ein Produkt einer aktuellen inneruniversitären Hauptströmung, befasst sich dieser Sammelband, der auf eine Oldenburger Tagung im Januar 2015 zurückgeht, mit Phänomenen der Wissenschaftsorganisation entlang von Phänomenen wie Strömungen, Schulbildungen und kollektiven Denkweisen innerhalb der akademischen Musikwissenschaft. Strömungsabhängig ist diese Sammlung von Vorträgen auch insofern, als hier aktuell aufgewertete und bearbeitete Begriffe wie Generation, Netzwerk und Denkstruktur im Zentrum stehen, deren vergänglicher oder stabiler Gebrauchswert nicht hinterfragt wird. Am meisten wird man von dem Begriff des Netzwerks befürchten müssen, dass er uns noch eine Weile im Rahmen der Digitalisierung des Alltagslebens und der Wissenschaftsorganisation begleiten wird. Vermutlich sogar länger als frühere Modeworte wie Dekonstruktion (heute schon meist hirnlos nur noch als Ersatz für den Begriff der Destruktion verwendet), Performanz (erinnert man sich noch?) oder Gender. So schnell werden wir die Netzwerkerei sicher nicht los. Dabei wird der euphemistische Ton dieser angeblich neutralen Beschreibungsvokabel sofort klar, wenn man daran denkt, wie dasselbe in wissenschaftskritischen Zusammenhängen früher einmal genannt wurde: machtorientierte Cliquenbildung.
Überhaupt und generell fällt an dem Sammelband auf, wie unhistorisch und unkritisch, weitgehend bezogen auf strukturalistische, diskursanalytische und positivistische Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts hier argumentiert wird, als hätte es ähnliche Fragestellungen in früheren Perioden der Entstehung und Entfaltung der Musikwissenschaft als akademischer Disziplin und schon davor nicht gegeben. Auch wird so getan, als gäbe es außerhalb der Universitäten überhaupt keine Musikwissenschaft oder Musikgeschichtsschreibung (vielleicht weil sie sich den gerade aktuellen und inneruniversitär als maßgeblich und förderungswürdig angesehenen Fragestellungen und Kategorien verweigert) und als hätten Nicht-Musikwissenschaftler, also z.B. Musiker (Komponisten und andere Musikpraktiker) zu bestimmten hier angesprochenen Fragen gar nichts zu sagen.
Es gibt einige interessante und lesenswerte, d.h. aufschlussreiche Fallstudien. Zum Teil sind es sogar Innenansichten wie im Falle von Manfred Hermann Schmids Darstellung der Münchner Schule um Thrasybulos Georgiades in ihrem Verhältnis zur Wiener Schule Guido Adlers oder im Falle von Lisa-Maria Brusius’ Auswertung ihres Interviews mit dem Berliner Musiksoziologen Christian Kaden. Er operierte als einer der wenigen schon vor der Wende grenzüberschreitend und aus einer Nische (der „relativ unabhängigen“ Musiksoziologie) heraus und konnte auch im wiedervereinigten Deutschland seine Stimme erheben ohne einen Hehl daraus zu machen, dass er aus einem repressiven System kam und auch daraus, dass er auch das neue System als nicht ganz repressionsfrei empfand; letzteres ist eine Äußerung, die leicht überhört wird. Dann gibt die Arbeit von Michael Custodis über den Kieler Klüngel rund um das System Friedrich Blume Einblicke in Vieles, was man bisher nur vermuten konnte und nun offengelegt ist.
Henry Hope setzt sich kritisch mit Friedrich Gennrichs Unternehmen auseinander, in einer autoritätshörigen Weise eine Verlängerung der ideologisch legitimierten „Straßburger Schule“ an der Frankfurter Universität während des „Dritten Reiches“ und danach versucht zu haben. Abgesehen davon, dass die Schule von Friedrich Ludwig, um die es hier geht, mit ihren dogmatischen Ansichten das 20. Jahrhundert in Fragen der mittelalterlichen Monodie und der frühen Mehrstimmigkeit beherrschen konnte, war Gennrich nur ein Rädchen im Getriebe einer Gruppe von miteinander konkurrierenden Verzweigungen dieser Richtung. Schade, dass Hope das dogmatische Wesen dieses Denkstils nicht aufdeckt, denn die materialreiche statistische Basis dieser Schule führte dennoch zu schematischen und andere Möglichkeiten ausschließenden Schlussfolgerungen schon bei Ludwig selbst und mehr noch bei seinen Schülern, die die Haltlosigkeit ihrer Hypothesen mit visionärem Geschwafel übertünchten, was besonders Besseler virtuos beherrschte. Schade auch, dass Hope weitere Forschungen zum Gegensatz von Ludwigs Forschungsmethoden zu denen Gustav Jacobsthals, der mit weniger Material richtigere, variantenreiche Folgerungen zog, sowie zu den Straßburger Verhältnissen und den Göttinger, Frankfurter und Heidelberger Ablegern unberücksichtigt lässt.
Dann wären sachliche Desinformationen unterblieben, wie die, dass Jacobsthal bereits ab 1872 der erste Musik-Professor im Deutschen Reich gewesen sei (er war zunächst nur Privatdozent, wurde 1875 außerordentlicher Professor und erst 1897 der erste Ordinarius für Musikwissenschaft im Reich) oder dass Ludwig 1905 die Professur von Jacobsthal übernommen hätte (vielmehr wurde der Straßburger Lehrstuhl nach Jacobsthals Frühemeritierung eingestellt, resp. nach Berlin verlegt und mit Kretzschmar besetzt. Ludwig musste zunächst wieder als Privatdozent anfangen, konnte sich mit seiner Antrittsvorlesung, die er als Privatdozent hielt, nachträglich habilitieren und wurde erst 1911 zum außerordentlichen Professor bestellt, nachdem 1907 die Berufung Philipp Wolfrums als Nachfolger Jacobsthals an dessen Verzicht gescheitert war). Noch wichtiger wäre es gewesen, Einblick in das gewalttätige Wesen von Scheinlösungen zu geben, wie sie die Ludwig-Schule propagierte und wegen deren illusionärem, auf Glaubensartikeln basierendem Charakter sie letztlich doch an Einfluss verlieren musste; was nicht heißt, dass ihre lehrbuchartigen Formeln nicht bis heute wirksam wären und dass deren geschlossenes Bild vom musikalischen Mittelalter immer noch mehr Anhänger hat als die Offenheit Jacobsthals.
Die frühen Jahre Gennrichs in Frankfurt nach dessen für ihn offensichtlich traumatischen Vertreibung aus Straßburg konnte auch der Rezensent selbst früher noch nicht richtig darstellen. Zunächst arbeitete Gennrich ab 1921 in Frankfurt wie auch in Straßburg als Gymnasiallehrer, wurde erst ab 1927 zusätzlich Privatdozent an der Frankfurter Universität und nach seiner Habilitation dort 1934 auch außerordentlicher Professor. Inzwischen liegen Berichte von Frankfurter Schülern des Lehrers Gennrich (darunter von Peter Cahn) vor, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, von ihm Ende der zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre in Deutsch und Englisch unterrichtet worden zu sein. Erstaunlich auch die Tatsache, dass Gennrich in der von Alfred Einstein redigierten Zeitschrift für Musikwissenschaft im Jahr 1929 einen relativ verständigen Bericht über den Vortrag eines anderen Frankfurter Privatdozenten und späteren Mitbegründers einer anderen “Frankfurter Schule”, eines gewissen Theodor Wiesengrund, der aus Wien kommend gerade über „Das Problem der Atonalität und Schönberg“ vorgetragen hatte, ablieferte, der noch nicht ahnen lässt, dass er kurz darauf als nationalsozialistischer Wortführer in den Unigremien auftreten wird. Eine schillernde und opportunistische Figur also dieser Gennrich, und seine Nibelungentreue zu Ludwig nur ein Aspekt seiner autoritären Persönlichkeit, die Dahlhaus 1963 in seinem Geburtstagsartikel zum Achtzigsten Gennrichs nicht erkennen wollte.
In einer Untersuchung von Einleitungen zu Doktorarbeiten der Jahre 2010-12 wollte Ina Knoth herausbekommen, wie sich die deutschsprachigen Nachwuchswissenschaftler(innen) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz innerhalb des sich rapide diversifizierenden Wissenschaftsbetriebs verorten und dabei indirekt (oder implizit, um ein anderes Modewort der in diesem Band geläufigen Wissenschaftstheorie oder Wissenskulturtheorie zu benutzen) deutlich werden lassen, wie wenig forschungskritisch sich die promovierenden Autor(inn)en im Rahmen ihres Forschungsprojekts zu ihrem Gegenstand und dessen Geschichte zu äußern wagen. Wie der Rezensent aus eigener Erfahrung weiß, muss allerdings auf Geheiß der Gutachter bei innovativen Ergebnissen die Forschungskritik stets noch dem Gehorsam gegenüber akademischen Zunftzwängen geopfert werden.
Bei einigen Beiträgen gewinnt man den Eindruck, dass deren Autor(inn)en für echt wissenschaftlich nur halten, was den Gebrauch einer kaum verständlichen Fachsprache virtuos beherrscht. Am ehesten gewährt noch Gerald Lind in seinem Aufsatz über die nur selten vernünftige Vernunft einen Einblick in den irrationale Regionen streifenden Umgang mit der auch emotionalen Basis von Kunst, der relativ leicht als unwissenschaftlich denunziert und ausgesondert wird. Andreas Domann führt in die Sackgassen einer materialistischen Ästhetik, von der die marxistische Wiederspiegelungstheorie mit ihren Analogismen nur eine Variante darstellt. Ähnliche dialektische Schemata gibt es natürlich auf idealistischer Seite auch. Bei Franziska Hohls Darstellung von Ergebnissen einer Untersuchung über mögliche oder unmögliche Versprachlichung von musikalischen Ereignissen vermisst man nicht nur Rückgriffe auf markante Äußerungen von Komponisten über die mögliche oder unmögliche Bestimmtheit musikalischen Ausdrucks, sondern auch den Verweis auf allenfalls aber immerhin subjektive Wahrheiten beim Hören von Musik, die keinerlei Zugzwang unterliegen.
Carolin Krahn macht deutlich, wie sich eine entstehende kosmopolitische Musikwissenschaft an dem schier unverwüstlichen, historisch bedingten Mythos der „deutschen Musikwissenschaft“ abzuarbeiten hätte, um sich von ihm zu befreien. Anders als an dem Interview mit Kaden kann auch Melanie Unseld Möglichkeiten und Grenzen autobiografischer Äußerungen für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung an dem Beispiel Guido Adlers und seiner Schrift Wollen und Wirken verdeutlichen. Ob man vom Datum, vielmehr der Datenflut zur Erkenntnis von historischen Zusammenhängen fortschreiten kann oder ob dazu nicht doch die Mobilisierung weiterer kritischer Fragestellungen nötig ist, fragt man sich nach der Lektüre ihres Entwurfs einer diesbezüglichen Datenbank von Annette van Dyck-Hemming und Melanie Wald-Fuhrmann. Verschärft wirft diese Frage der abschließende Beitrag von Wolfgang Schmale auf, denn: selbst wenn alles die Musik betreffende digitalisiert wäre, stünden wir vor dem immergleichen Problem einer kritisch bewertenden Analyse des Ganzen und des Einzelnen, was uns kein Digitalisat abnehmen, manchmal allerdings erleichtern kann.
Inhalt

Peter Sühring
Bornheim, 05.04.2017

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