de Vries, Willem: Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45. Übersetzt aus dem Engl. von Antje Olivier. Vorwort von Fred K. Prieberg. – Köln: Dietrich, 1998. - 380 S.
ISBN 3- 920862- 18-X : DM 49,00
Mit Begriffen wie “Raubgold” und “Kunstraub” ist in der breiten Öffentlichkeit jüngst eine Diskussion belebt worden, die lange Zeit – wenn überhaupt – nur unter Fachleuten und am Rande geführt wurde: die nazistische Praxis der Plünderungen in den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten. Diese Diskussion ist jetzt von dem 1939 geborenen holländischen Musikwissenschaftler Willem de Vries um einen ebenso bisher kaum bekannten Bereich erweitert worden: um den der Musik. In seinem zuerst in englischer Sprache 1996 erschienenen und jetzt in deutscher Übersetzung herausgekommenen Buch “Sonderstab Musik” beschreibt er “organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45”.
Diese Raubzüge wurden unter der obersten Leitung des NS-Ideologen Alfred Rosenberg organisiert, der den ominösen Titel führte “Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP”.
Nach der Besetzung Frankreichs wurde im Juli 1940 ein sog. “Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg” gebildet, dessen einzige Aufgabe darin bestand, Kulturgüter aus den eroberten Ländern zu stehlen. Die verschiedenen Bereiche wurden auf sog. “Sonderstäbe” verteilt: so gab es beispielweise neben dem (von der Materie her spektakulärsten) “Sonderstab Bildende Kunst” u.a. einen für “Kirchen”, für “Bibliotheken” wie auch einen für “Musik”. An dessen Spitze stand der 1996 verstorbene Herbert Gerigk, der heute im wesentlichen durch sein berüchtigtes Lexikon “Juden in der Musik” noch bekannt ist. Im NS-Jargon wurden die Raubzüge deklariert als “Sicherung” von “Materialien zu politischen Forschungszwecken” bei Personen, die als “anti-deutsch” eingestuft wurden, zum anderen ging es um sog. “herrenloses” Gut, hinter dem sich der Besitz der Juden verbarg, die vor den Nazis geflohen waren. Nach außen hin wurden die Plünderungen unter der verharmlosenden Bezeichnung “Aktion M” (M für “Möbel”) geführt – der “Sonderstab Musik” kassierte aber Bücher über Musik, Musikinstrumente und -handschriften, Partituren und andere Noten-Ausgaben, darunter z.T. sehr alte und wertvolle Drucke, und Schallplatten. Theoretisch sollten dabei nur deutsche Komponisten berücksichtigt werden…
Das Beschlagnahmte war im wesentlichen bestimmt für die Bestückung der auf verschiedene Städte verteilten “Hohen Schule”, die Rosenberg für spezifische NS-Forschung und –Lehre gründete (der Bereich “Musik” residierte in Leipzig). Es kam aber so viel Beutegut zusammen – es wurden insgesamt rund 68.000 Haushalte geplündert, davon mehr als die Hälfte in Frankreich- daß es auch an anderen Orten gelagert wurde (Ratibor in Oberschlesien, Schloß Langenau bei Hirschberg, später dann Schloß und Kloster Banz, Musikinstrumente speziell im Kloster Raitenhalslach bei Altötting).
Wo sind diese Dinge geblieben? Das in Bayern Erhaltene wurde in die Collecting Points zur Rückerstattung gebracht. Das nach Leipzig Transportierte wurde im Krieg zerstört, das in Schlesien Verbliebene gelangte in die Hände russischer Truppen. Und manches von den Nazis als wertlos Erachtete war von ihnen selbst schon vorher vernichtet worden, andererseits durften sich aber auch Angehörige der Wehrmacht bedienen – als Anerkennung für militärische Erfolge; und wenn deutsche Familien Kriegsverluste erlitten hatten, wurden deren Ersatzansprüche aus diesem Fundus befriedigt.
Der Autor hat für seine Darstellung viele bisher unbekannte Quellen aufgespürt, erschlossen und ausgewertet, z.T. auch abgedruckt. Er zeigt unabweisbar, zu welchem Vandalismus die Nazis auch im Bereich der Musik fähig waren, wie – unter Mitarbeit bekannter Musikwissenschaftler – auch hier gewütet wurde. Und er nennt auch Namen, die auf Dokumenten deutlich zu erkennen sind. Wie viele andere Nazis gelangten die meisten der Handlanger von damals nach 1945 zu Amt und Würden. Einer der bekanntesten Überlebenden ist der Göttinger Professor Wolfgang Boetticher, der wegen seiner “Bearbeitung” von Texten Robert Schumanns im Sinne der nazistischen Ideologie zwar schon seit langem seinen Ruf z.T. eingebüßt hatte, aber immer noch Vorlesungen halten durfte; erst jetzt, nach Erscheinen des Buches von Willem de Vries, wurde er beurlaubt…
Hans-Günter Klein
Zuerst veröffentlicht in FM 1999