Mendelssohns Kammermusik. Eine Einführung / Hrsg. von Kai Marius Schabram – Berlin: uni-edition, 2013. – 183 S.: Notenbsp. (Kompendium Junge Musikwissenschaft ; 6)
ISBN 978-3-942171-96-0 : 19,95 (kt.)
Der Mut zur Lücke, den die bisherige deutsche Musikwissenschaft sich glaubte leisten zu können, war wohl eher ein Zeichen ihrer Schande. Die Kammermusik Mendelssohns war eine solche Lücke in der Musikanalyse und der Musikgeschichtsschreibung, und man konnte bisher nur hoffen, dass sie demnächst im Rahmen eines angekündigten Doppel-Bandes Mendelssohn Bartholdy. Interpretationen seiner Werke eines Verlags in Laaber geschlossen werden würde. Nun ist eine Truppe junger Nachwuchswissenschaftler vorgeprescht und hat uns Beispiele beschert, wie eine dem Werk Mendelssohns gegenüber weitgehend vorurteilsfreie Analyse wenigstens des anerkannten Kernbestands seiner kammermusikalischen Produktion aussehen könnte. Es ist leider nur halbwahr ‑ wie die Initiatorin und Mentorin dieses Unternehmens, die Weimarer Musikwissenschaftsprofessorin Christine Wiesenfeldt, in ihrem zusammen mit dem Herausgeber Kai Marius Schabram verfassten Vorwort schreibt – dass in diesem auf einer Weimarer Seminarveranstaltung basierenden Band das Kammermusikschaffen Mendelssohns „weitgehend vollständig“ abgehandelt würde, denn auch hier schmerzen Lücken bei der Ensemblemusik mit Klavier, also fehlende Besprechungen der späten Violinsonate in F-Dur, der Bratschen-Sonate und der Klarinetten-Sonate.
Im ersten Teil des Sammelbandes von teilweise erstaunlichen Seminararbeiten junger Bachelor- und Magister- und nur zweier Doktorkandidaten sind aus der Kategorie Q (=“Kammermusikalische Werke mit Klavier“) des neuen Mendelssohn Werk-Verzeichnisses (MWV) zwischen den Nummern 11 und 34 immerhin elf Werke ausgewählt und besprochen und dies erfreulicherweise strikt nach der Chronologie ihres Entstehens. Im zweiten Teil des Buches sind aus der Kategorie R (=“Kammermusikalische Werke ohne Klavier“) zwischen den Nummern 20 und 37 neun Werke (sechs Streichquartette, zwei Streichquintette und das Streichoktett) abgehandelt. Musik für Bläser fehlt ganz.
Mitunter sieht diese Junge Musikwissenschaft etwas alt aus, besonders dann, wenn unhinterfragt bestimmte anscheinend unvermeidbare Floskeln einer noch immer nicht als veraltet verworfenen Musikanalyse benutzt werden. Denn, was soll es heißen, dieser oder jener Satz aus einem Mendelssohnschen Kammermusikwerk sei „in“ oder „in der“ (Singular!) Sonatenhauptsatzform komponiert? Von einer wirklich jungen Musikwissenschaft würde man vielleicht erwarten dürfen, dass sie diesen alten Zopf einer unbegründeten und unlegitimierten ahistorischen Redeweise abgeschnitten hätte. Gemeint scheint eine speziell deutsche oder Wien-klassische Gliederung eines Sonatensatzes zu sein, deren angeblich universelle Gültigkeit mit einer solchen Formulierung einfach behauptet und weiter mitgeschleppt wird. Praktiziert wird hier eine unreflektierte Übernahme eines normativen Modells, das erst in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine von Mendelssohn ungeliebte Musikpublizistik in die Welt setzte und das mit der Regeln setzenden Kompositionslehre von Adolf Bernhard Marx untrennbar verknüpft ist. In der Komponierpraxis zur Zeit Mendelssohns spielten solche nachträglich kodifizierten Normen (dazu gehören auch die so genannten „üblichen Tonartenverhältnisse“ zwischen den so genannten Haupt- und Seitenthemen) noch keine so diktatorische Rolle, wie sie ihnen seit Marx und bis heute gerne nachgesagt wird. Alles, was nicht nach schwitzender thematischer Arbeit aussieht, wie die nicht-deutschen Sonatensätze Cherubinis, Clementis oder Onslows wurden denn auch von deutscher Schulmeisterei als „schlecht komponiert“ verunglimpft. Kurz vor Mendelssohn (in der Mitte und zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) unterschied man sogar noch zwischen einer deutschen Sonatenform (mit „Durchführung“) und einer welschen, die eine „Metamorphose“ der Themen und Motive in einem Teil des Satzes sehr wohl kannte, sie aber keinen Regulativen unterwarf.
Es ist paradoxerweise der große Vorteil dieses Sammelbandes, dass in verschiedenen Beiträgen Mendelssohns nicht schulgerechte, nicht zunfthörige, sondern seine experimentelle, an Schönheit und Freiheit der stimmlichen und klanglichen Operationen orientierte Kompositionsweise hervorgehoben und geschildert wird. Viele Analysen lesen sich im Detail gerade wie eine Widerlegung des klassizistischen Etiketts, mit dem Mendelssohn irrtümlich oder bösartig belegt wurde. Mendelssohn selbst kam sich aber in seiner Freiheit gar nicht wie ein „Abweichler“ vor, da er die heute als maßgeblich, üblich, zwingend behaupteten Regeln entweder (noch) gar nicht kannte oder schlicht ignorierte, da er sie beim Komponieren eher als störend und hemmend empfunden hätte. So sehr es freut, die unklassizistischen Verfahrensweisen Mendelssohns hier einmal entdeckt und beschrieben zu sehen, so sehr zweifelt man daran, dass das kompositorische Raffinement Mendelssohns, sein oft trügerisches Spiel mit Gliederungselementen, Tonarten, Modulationen und rhythmischen Verwandlungen, Dehnungs- und Beschleunigungstechniken überhaupt als bewusste Abweichungen zu verstehen seien. Die markantesten Passagen dieses Buches (z. B. in der Analyse der frühen f-Moll-Violinsonate von Florian Schuck, der des Klaviersextetts in D-Dur von Kirstin Pönninghaus oder der des ersten Streichquintetts in A-Dur von Michael Pauser) zeigen Mendelssohn als einen Komponisten, der ganz ohne äußere Zwecke und Sinnstiftungen ganz der Eigendynamik der innermusikalischen Möglichkeiten hingegeben ist und sich von ihnen treiben und anregen lässt.
Mit Recht liegt der einleitende Schwerpunkt der Sammlung auf der Ensemblemusik mit Klavier, und es werden mehrere plausible Gründe angeführt dafür, dass Mendelssohn mit der in seiner Jugend nur selten bedienten Gattung des Klavierquartetts sein kammermusikalisches Wirken als Zwölfjähriger eröffnete und erst spät zur gängigeren Gattung des Klaviertrios kam. Über die heute mögliche Differenzierung der beiden Fassungen des ersten Klaviertrios in d-Moll hätte man gerne mehr erfahren, während im Falle des zweiten Streichquintetts der quasi fragmentarische Charakter seiner Überlieferung gut herausgearbeitet wird.
Insgesamt enthält dieser Band viele neue Sichtweisen und stellt einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den bisherigen Nachlässigkeiten dar, auch wenn manche Autor(inn)en ‑ teils im Anschluss an, teils im Widerstand gegen die wenige vorhandene Literatur ‑ von bestimmten Vorgaben renommierter aber nicht desto weniger irrender Mendelssohn-Forscher abhängig bleiben (wie z. B. von bestimmten Behauptungen Larry Todds, der auch dort noch Konventionen oder Einflüsse sucht und sieht, wo bei Mendelssohn bereits Innovationen vorliegen, oder von Carl Dahlhaus oder Friedhelm Krummacher). Der Band könnte und sollte auf jeden Fall reformierend und reinigend auf die Zustände in der deutschen Musikwissenschaft wirken, ob er darüber hinaus – wegen der terminologischen Fixierungen – auf einen von Wiesenfeldt gewünschten „breiten Leserkreis“ hoffen kann, ist eher zu bezweifeln. Aber Musikpublizisten könnten und sollten sich von mancher Einsicht dieses Seminars dazu anregen lassen, sie unwissenschaftlich nachschreibend zu verbreiten.
Peter Sühring
Berlin, 07.08.2013