Lexikon Neue Musik / Hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz. – Stuttgart [u.a.]: Metzler / Bärenreiter, 2016. – 686 S.: Notenbsp.
ISBN 978-3-476-02326-1 : € 128,00 (geb.)
Seit etwa zehn Jahren ist auf dem Buchmarkt eine Blüte lexikalischer Musikliteratur zu beobachten. Offensichtlich kommt dieser Bedarf einem Interesse entgegen, das nicht – entgegen aller Unkenrufe – von den neuen Medien allein abgedeckt werden kann. Die Bandbreite dieser literarischen Gattung ist enorm: Sie reicht von Wörterbüchern musikalischer Grundbegriffe für den Einsteiger bis zu mehrbändigen hochspezialisierten Handbüchern. Interpreten-Lexika, insbesondere solche, die sich Geigern, Pianisten oder Dirigenten widmen, erfreuen sich größerer Verbreitung, ganz besonders dann, wenn sie über die reine Faktenvermittlung hinaus Werturteile anbieten (was andererseits das Verfallsdatum einer derartigen Publikation erheblich herabsetzen kann). Seit einigen Jahren erscheinen zudem Lexika zu einzelnen Instrumenten: Violine, Flöte, Klavier und weiteren. Ein eigener Zweig ist die seit dem 19. Jahrhundert florierende biografische Literatur, die im 20. Jahrhundert um Komponisten-Monografien und Werkverzeichnisse ergänzt wurde. Bereichert wird dieses literarische Segment seit etwa 20 Jahren um Handbücher zu jeweils einem Komponisten, die das aktuelle Wissen von mehreren Autoren lexikalisch abzudecken und zu bündeln suchen. Abgesehen von der Interpreten-Literatur, die fast ausschließlich von Autoren aus dem musikjournalistischen Umfeld betreut wird, basieren die meisten der anderen genannten Handbücher und Lexika auf musikwissenschaftlichen Projekten.
Einführende Literatur zur neuen Musik gab es in den 1970er bis 1990er Jahren in zwei Varianten: entweder als Lexikon der Komponisten Neuer Musik, so Josef Häuslers weit verbreitete Musik im 20. Jahrhundert aus dem Jahre 1969 oder als anhand von Werkanalysen und Stilrichtungen erzählte Musikgeschichte (Ulrich Dibelius: Moderne Musik, 2 Bände). Noch die Neuausgabe der Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) ist diesem Prinzip der Aufteilung in einen je mehrbändigen Sach- und Personenteil gefolgt.
Das vorliegende Lexikon Neue Musik aus dem Verlag Metzler/Bärenreiter beschreitet einen dritten Weg, denn es besteht aus zwei Teilen: Dem Thementeil, gleichsam das Handbuch im Lexikon, folgt ein rein lexikalischer Teil. Konzeptionell erweist sich das Kompendium somit als eine Hybridgattung.
Der thematische Komplex nimmt ein knappes Viertel des Buches ein. In neun Kapiteln werden einzelne Aspekte der Neuen Musik von jeweils renommierten Autoren ausführlich beleuchtet. Neben historischen Themen – zur Avantgarde der 1950er Jahre – werden regionale Aspekte behandelt: sehr umfassend und fundiert in einem Beitrag zur amerikanischen Musikgeschichte sowie, in einem weiteren Beitrag, zu transnationalen Tendenzen, fokussiert auf die Musik Asiens. Vier Themenkomplexe sind den für die Neue Musik zentralen Begriffen des musikalischen Materials gewidmet: Klangkomposition, Mikrotonalität, Elektronische Musik bzw. Live-Elektronik und – damit eng zusammenhängend – Raumkomposition. Mehr oder minder komplementär zueinander stehen die Betrachtungen zu Spiritualität und zu neuer geistlicher Musik, und, als Tribut an aktuelle Diskussionen, zur Weltbezogenheit (Diesseitigkeit) in Neuer Musik.
Die Auswahl mag ein wenig beliebig wirken; denkbar, dass sich im Laufe der Konzeption des Bandes die Notwendigkeit ergeben hat, einzelne Themen zu vertiefen.
Das Lexikon (der zweite Teil des Buches) präsentiert ein weites Spektrum: Regionale Themen nehmen einen quantitativ gewichtigen Raum ein, was nicht nur mit dem früher vorherrschenden eurozentristischen oder gar – im Falle der neuen Musik – gelegentlich (und gelegentlich auch heute noch) abschätzigen „Darmstadt“-Blick zu rechtfertigen ist. Vergleichbar umfangreich ist die Liste der Themen zu kompositionstechnischen Fragen. Sie reicht von Befragungen der traditionellen Musiklehre im Kontext der Neuen Musik in Artikeln zu Form, Harmonik, Melodie oder Rhythmus bis in den aktuellen Diskurs musikalischen Materials, darunter Helmut Lachenmanns Terminus der Musique concrète instrumentale, das Geräusch oder Multiphonics. Kompositorische Verfahren – Serielle Musik und Spektralmusik – und Stilrichtungen wie die Polystilistik oder der längst zum Stil geronnene Minimalismus sind teilweise kaum voneinander zu trennen (die unterschiedlichen Formen des Minimalismus beispielsweise sind ursprünglich aus eigenständigen kompositorischen Ansätzen entwickelt worden). Und den musikalischen Gattungen widmen sich Lemmata vom Streichquartett über das Instrumentale Theater bis zur Elektronische(n) Musik / Elektroakustische(n) Musik. Dem Anspruch des Buches angemessen, Berührungsängsten an den Grenzlinien der neuen Musik nicht nachzugeben, finden auch Jazz und Pop/Rock ihren Platz in jeweils eigenen Beiträgen, ebenso die Klangkunst. Weitere Themenfelder behandeln soziologische, psychologische, musikwissenschaftliche und, damit eng verbunden, musikhistorische und ästhetische Fragen. Auf der performativen Ebene finden sich Einträge zu Instrumente und Interpreten, Interpretinnen und Klangkörper (z.B. Kammerensemble, Stimme / Vokalmusik). Interdisziplinäre Fragestellungen umkreisen schließlich einen letzten Themenkomplex: Die Beziehung Neuer Musik zu anderen Kunstformen und die Frage der Intermedialität verorten ihren Gegenstand in einem breiten, auch gesellschaftlichen, Kontext.
Den beiden Herausgebern, Jörn Peter Hiekel, Leiter des Instituts für neue Musik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Dresden und Leiter des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in Darmstadt, sowie Christian Utz, Professor für Musiktheorie und Musikanalyse an der Universität für Musik und darstellende Künste Graz und Komponist, ist es mit dem Lexikon Neue Musik gelungen, Neue Musik in einem breiten Spektrum abzuhandeln, das weit über vergleichbare frühere Abhandlungen hinausreicht. Wenn es doch einen eigenständigen Themenkomplex gibt, den man im Lexikon Neue Musik vergeblich sucht (der aber in etlichen Artikeln zumindest marginal berücksichtigt wird), dann ist es die Rolle der Medien in der Neuen Musik. Die Blüte nicht nur der Avantgardemusik in den 1950er Jahren und danach wäre ohne den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, speziell in (West-) Deutschland, so nicht möglich gewesen – und dies in jeglicher Hinsicht, von der Entstehung über die Aufführung bis zur Distribution. (Auf die maßgebliche Bedeutung des Rundfunks für die Entstehung der elektronischen Musik wird in einem eigenen Themenbeitrag und dem entsprechenden Lemma eingegangen). Neben dem Rundfunk hatte die Schallplatte (heute die CD bzw. digitale Medien) eine wichtige Funktion inne. Abgesehen davon, dass ganze Musikrichtungen, wie die Popmusik, ohne die Erfindung der Schallplatte (und des Mikrofons!) heute schlicht nicht existieren würden, entwickelten sich einzelne Medien, etwa ab den 1920er Jahren – vermehrt dann ab 1950 – zum integralen Bestandteil des kompositorischen Materials und Denkens. Kompositorischer und medialer Fortschritt stehen in permanenter Wechselwirkung: die Raummusik der 1950er Jahre konnte erst mit der Stereophonie einigermaßen befriedigend abgebildet wurden; Luigi Nonos diffizile und zerbrechliche Spätwerke sind medial eigentlich nur mit hochauflösender 5.1-Surroundtechnik angemessen darstellbar.
Problematisch (im entsprechenden Eintrag und im Vorwort von den Herausgebern ausführlich diskutiert) ist der Begriff des „Neuen“ in der Neuen Musik. Mangels eines Stil- oder Epochenbegriffs bleibt es eine Hilfskonstruktion (man denke insbesondere an etliche restaurative Tendenzen seit den 1980er Jahren). Eine sinnvolle Entscheidung der Herausgeber war es, die Sicht auf die Musik nach 1945 zu beschränken. Doch ist eine klare Abgrenzung kaum möglich, denn vieles in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist ohne das Wissen um die Entwicklung der Musik bis 1945 nicht nachvollziehbar und verständlich (die serielle Musik etwa ist ohne Schönberg und Webern nicht denkbar); Musikgeschichte steht (und entsteht) immer im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Brüchen. So ist der Blick auf die Zeit „davor“ nicht nur hilfreich, sondern notwendig.
Sehr erfreulich und für den Leser nutzbringend und anregend ist die – sicher von den Herausgebern getroffene – Entscheidung, in den einzelnen Beiträgen über Faktizität hinauszugehen und die Themenstellungen in den Kontext aktueller Diskussion zu stellen, auch wenn einzelne Autoren in wenigen Fällen der Gefahr allzu subjektiver Auslegung, besonders in den herangezogenen Werkbesprechungen, nicht entgehen.
Ausgesprochen hilfreich und dem Nutzer sehr entgegenkommend ist das mehrstufige Referenzsystem, das offensichtlich dem Anspruch, die die webbasierte Volltextrecherche und die Verlinkung mittels Hypertext für den heutigen Umgang mit Texten als Standard eingeführt haben, geschuldet ist: Nach dem Inhaltsverzeichnis, das die neun Themenartikel auflistet, folgt ein Artikelverzeichnis mit Verweisen (der Eintrag Mikrotonalität etwa führt den Leser auf den Themen-Beitrag 7 und auf die Lexikonartikel Atonalität / Posttonalität / Tonalität sowie Harmonik / Polyphonie). Des Weiteren finden sich im Anhang des Buches nebst Siglen- und Autorenverzeichnis ein Personen- und Werkregister wie auch ein Sachregister. Der Lexikonteil besteht aus etwas mehr als 100 Lemmata. Hinzu kommen um die 50 weiteren Verweis-Lemmata ohne eigenen Text. Die Textbeiträge schließlich sind, wie in neueren Lexika gang und gäbe, ihrerseits referenziert. Und um die (quasi analoge) Suchfunktion zu optimieren, finden sich am Ende eines jeden Beitrages, vor der Literaturliste, wiederum Hinweise auf Themen-Beiträge und Artikel.
Allein dies ausgeklügelte System verhilft dem Lexikon zu einem hohen Nutzwert. Für den „schnellen Blick“ ist es eher nicht gedacht. Als fundierte Informationsquelle für Musikwissenschaftler, Musikjournalisten, Musikpädagogen, ausübende Musiker und Komponisten wird es zweifellos seinen Platz in Fachbibliotheken finden. Redaktionell ist das Buch sehr gut betreut (allein schon durch die Auswahl der Autoren). Die verlegerische Umsetzung in ein schön gestaltetes Produkt ist ebenfalls gelungen, was alles in allem den nicht geringen Preis rechtfertigt.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 06.09.2016