Alberto Ginastera in der Schweiz. Essays und Dokumente / Hrsg. von Angela Ida de Benedictis und Felix Meyer. – Mainz: Schott, 2016. – 127 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Zeittafel
ISBN 978-3-7957-1215-0 : € 19,95 (br.)
Den letzten zwölf Lebensjahren Alberto Ginasteras ist das Buch Alberto Ginastera in der Schweiz gewidmet. Sechs Beiträge behandeln das vorgegebene Thema, ergänzt um Dokumente aus den Beständen der Paul Sacher Stiftung in Basel mitsamt einer Zeittafel, die ebenfalls auf diesem Quellenmaterial basiert. Drei der sechs Autoren, darunter die beiden Herausgeber, sind Mitarbeiter der Paul Sacher Stiftung; Felix Meyer, einer der beiden Herausgeber, steht der Stiftung als Direktor vor. Ziel und Nutzen der vorliegenden Veröffentlichung ergeben sich nicht nur aus dem Umstand, dass der in der Basler Stiftung aufbewahrte Nachlass Alberto Ginasteras Dokumente zu Leben und Werk mit einem Schwerpunkt auf die Genfer Zeit, das heißt den Jahren 1971 bis 1983, beherbergt – auch gibt es bislang kaum Untersuchungen zu dieser Schaffens- und Lebensphase des argentinischen Komponisten.
Ginastera hatte seine Heimat verlassen, um der gleichfalls gebürtigen Argentinierin Aurora Natóla – einer Cellistin, für die er mit einer Ausnahme alle Cellowerke nach 1971 schrieb – an deren Wohnort zu folgen und sie zu heiraten, auch weil er nach einer langjährigen persönlichen Krise keine Zukunft mehr für sich in Argentinien sah.
Die beiden eröffnenden Aufsätze des Sammelbandes widmen sich jeweils einem Werk aus den ersten Jahren der Schweizer Zeit: Deborah Schwartz-Kates, amerikanische Ginastera-Expertin, deutet in ihrer Analyse das dritte Streichquartett als Dokument der Krise, gleichzeitig als Werk des Übergangs hin zu einer sehr freien Behandlung dodekaphoner Technik. Matthias Schmidt, Professor am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Basel, extrahiert aus der Textstruktur der Kafka-Kantate Milena op. 37 autobiografische Züge.
Ginasteras kultureller Horizont, nicht nur auf musikalischer oder literarischer Ebene, entschlüsselt der Beitrag von Angela Ida de Benedictis, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Paul Sacher Stiftung und Mitherausgeberin dieses Bandes, anhand der Bibliothek des Komponisten. Aufbau und Entstehung seiner Bibliothek erweisen sich als ebenso wichtig wie Denotate und Einlegematerialien in einzelnen Büchern und Partituren. Die Bedeutung dieser Bibliothek als Quelle nicht nur für die biografische Forschung, sondern auch für die musikalische Werkanalyse weist die Autorin anhand der oben erwähnten Kafka-Kantate nach.
Die Person Paul Sachers darf im Rahmen der Thematik des Buches und als Namensgeber der die Publikation unterstützenden Institution nicht fehlen. Felix Meyer stellt die Beziehung des Komponisten zu dem Dirigenten am Beispiel der Entstehungsgeschichte zweier Werke dar: der Hommage à Paul Sacher, später umbenannt in Puneña Nr. 2 op. 45, komponiert 1976 zum 60. Geburtstag von Paul Sacher und der direkt im Anschluss entstandenen Glosses sopra temes de Pau Casals op. 46. Die anschließende Korrespondenz mit Sacher ist durch die letztendlich enttäuschte Hoffnung auf einen Kompositionsauftrag durch den Schweizer Mäzen geprägt.
Der vierte Satz aus Ginasteras erstem Klavierkonzert, die Toccata concertata, war das in den 1970er Jahren am weitesten verbreitete Werk des Komponisten, ohne dass die Hörer den Namen des Komponisten bewusst zur Kenntnis genommen hätten. Das Stück wurde fast ausschließlich über den Namen der Interpreten rezipiert: Es handelte sich um eine Bearbeitung der Toccata durch Keith Emerson für dessen Rockgruppe Emerson, Lake & Palmer. Simon Obert zeigt auf, wie ambitioniert in der Zeit um 1970 Rockmusiker die Gefilde der Ernsten Musik zu betreten suchten. Emerson suchte gar Ginastera in dessen Wohnung auf, um die höheren Weihen für seine Bearbeitung zu empfangen.
Der letzte Beitrag des Buches von Esteban Buch, der in Paris zu dem Themenkomplex Musik und Politik forscht, zeigt Ginastera als durchaus ambivalente Figur zwischen dem Wunsch nach Anerkennung auch in schwierigem politischen Umfeld und der Stellungnahme des engagierten Künstlers. Der Autor hält sich mit der Deutung der von ihm aufgefundenen Zeugnisse vornehm zurück, es geht ihm nicht um Wertung, gar Verurteilung.
Ein Anhang, der insgesamt 22 Dokumente aus den Beständen der Paul Sacher Stiftung mit Abbildungen vorstellt und kommentiert, eine ausführliche Zeittafel mit Kompositions- und Aufführungsdaten ergänzt um biografische Details und ein Namensregister runden diese sehr erfreuliche Veröffentlichung eines im deutschen Sprachraum noch weitgehend zu entdeckenden Komponisten ab.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 05.11.2017