Marschner, Rosemarie: Das Mädchen am Klavier. Roman.- Original-Ausgabe. – München: dtv, 2013. – 508 S. (dtv premium)
ISBN 978-3-423-24944-7 : 14,90 € (kt.; auch als e-book erhältl.)
Eigentlich, so denkt man unwillkürlich, müsste das Thema Clara Schumann längst ausgereizt sein: Es gibt zahlreiche wirklich gute Biographien über Clara allein oder auch solche, die das Künstlerehepaar als Ganzes in den Blick nehmen. Clara Schumanns Schicksal ist als Hörbuch zu haben, ein Kinderbuch gibt es auch und 2010 kam gar ein Clara-Schumann-Kochbuch (Clara Schumann lädt zum Diner von Dagmar Schäfer, Husumer Verlagsgesellschaft) auf den Markt. Und dann natürlich der Film: Nastasia Kinski und Martina Gedeck als Clara haben uns das „Schicksal der begabten Frau“ (Zitat Inge Stephan) auf der Leinwand vorgelebt und alle Welt kannte sich fortan aus. Im Roman fanden Dieter Kühn und Peter Härtling einen ganz eigenen Zugang zu diesem Mädchen am Klavier, den sie dem interessierten Lesepublikum gleichsam literarisch wertvoll unterbreiteten.
Nun hat hier die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Rosemarie Marschner einen Clara-Wieck-Roman vorgelegt, der sich auf die Jugendjahre der Pianistin konzentriert und dazu auch noch mehr als 500 Seiten braucht. Der geneigte Leser möge sich vom Umfang des Buches jedoch nicht abschrecken lassen, denn die Lektüre lohnt sich allemal. Dabei ist das Buch ganz anders als man vielleicht erwartet: es ist – obwohl gut formuliert – keine literarische Stilübung, aber es ist auch kein romantisch verquastes Künstlerschicksal geworden, das einseitige Sichtweisen transportiert, an die man sich beispielsweise aus Mozart- , Beethoven- oder Liszt-Romanen erinnern kann. Das Buch überzeugt durch seine atmosphärische Dichte und weniger durch Dialoge: die Beschreibung des Milieus, in dem Friedrich Wieck gedieh (oder auch nicht), die Schilderung Leipzigs als Musik- und Messestadt, die sich dennoch im Vergleich zur Residenzstadt Dresden benachteiligt fühlte, das Leben der großen und kleinen Leute in Sachsen und anderswo – auf Reisen, all das lässt die handelnden Personen plastisch hervortreten, ob sie nun eine Hauptrolle spielen oder nicht. Viel Raum wird der Familie Claras zugestanden und man hat den Eindruck, dass die Autorin um Objektivität bemüht ist und dem Leser die Wertung selbst überlässt.
Der Vater Claras wird als mittelmäßig begabter, gleichwohl überehrgeiziger und zäher Charakter beschrieben, der sich aus ärmlichen Verhältnissen durch eine gewisse Schläue, aber auch Pragmatismus und Geschäftssinn befreite und als Klavier- und Musikalienhändler und Pädagoge in Leipzig Anerkennung verschaffte. Unter dem Stigma der niedrigen Herkunft litt er lebenslang, was bisweilen paranoide Züge annahm oder in liebedienerisches Auftreten um des pekuniären Vorteils willen ausartete. Das macht ihn zwar nicht unbedingt sympathischer, erklärt aber schlüssig – ob man sich nun auf den Roman stützt oder auf die Erkenntnisse aus der Musikhistorie – sein Verhalten.
Marianne Bargiel, die erste Frau Wiecks und Claras Mutter, jedenfalls war ausgebildete Musikerin und sie war es, die ihrer Tochter die sensationelle Begabung vererbte, die zu heben, formen und züchtigen sich Friedrich Wieck ausbedungen hatte, nachdem seine eigene zu einer künstlerischen Karriere bei Weitem nicht reichte. Was Marianne und ihre Kinder durchlebten, als sie – dem untadeligen Ruf der Familie Wieck geschuldet – nach Mariannes Seitensprung gewaltsam getrennt wurden, wird exemplarisch durchgespielt. Ausgehend von dem Umstand, dass das Denken und Fühlen der Menschen im 19. Jahrhundert auch nicht wesentlich anders war, kann man emotionale Zumutungen und soziale Härten nachvollziehen, die daraus für alle Beteiligten (es gab ja auch noch Claras Brüder Alwin und Gustav) resultierten. Im Zeitalter der Patchworkfamilien und des gemeinsamen Sorgerechts hätte man sonst für derlei Radikal-Lösungen nur noch ein Achselzucken übrig. Die Konstellation Robert Schumann und Friedrich Wieck wird ebenso ausgeleuchtet und versucht beiden Protagonisten gerecht zu werden, wobei Claras Situation am Endes des Romans, als die Heirat möglich wird, eben nicht durch das allfällige Happy end entzerrt wird: der als Künstler so rebellisch und fortschrittlich denkende Robert war als Kind seiner Zeit eben auch ein biederer Bürger, der seiner Frau im Wesentlichen dasselbe Geschick zumutete wie jeder anderen verheirateten Frau damals auch, nämlich als Mutter und Hausfrau.
Das Buch wird bei aller Empathie an keiner Stelle psychologisierend, die Fülle der handelnden Personen – Chopin, Mendelssohn, Hiller, Paganini kommen genauso vor wie weniger bekannte KünstlerkollegInnen Camille Moke oder Leopoldine Blahetka – verwirrt nicht, sondern bereichert das Tableau und verwebt alles mit allem wie bei einem farbenprächtigen Gobelin. Das Buch ist zugleich spannend, man fühlt sich nach der Lektüre gut unterhalten und bestens informiert (denn die Fakten stimmen ja). Dicke Empfehlung!
Claudia Niebel
Stuttgart, 25.04.2013