Knittel, K.M. [!]: Seeing Mahler: Music and the Language of Antisemitism in Fin-de-Siècle Vienna. Neuausg. – Farnham [u.a.]: Ashgate, 2010. – 201 S.: s/w-Abb., XIII., Tafeln.
ISBN 9780754663720 : £ 55.00 (geb.)
„‘Unansehnlich, schwächlich, häßlich, zappelndes Nervenbündel‘ – das sind gangbare Schlagworte über Mahlers’s äußere Erscheinung. Sie sind unzutreffend und nur teilweise durch ihn selbst veranlaßt.“ So Alfred Roller, der mit Gustav Mahler (1860-1911) bei mehreren Produktionen an der Wiener Hofoper zwischen 1904 und 1907 zusammengearbeitet hat, als Ausgangspunkt von K.M. Knittels Untersuchungen zur allzu selbstverständlichen Sprache des Antisemitismus im Wien der Jahrhundertwende. Knittel, die an der Universität von Austin, Texas, lehrt und bereits einiges zu Mahler veröffentlicht hat, arbeitet zu Beginn heraus, wie auch Rollers positive Darstellung vom damals ganz normalen Wiener Antisemitismus des Fin-de-siècle geprägt war, wonach Juden als grundsätzlich anders, als Außenseiter galten, ohne die Möglichkeit wirklicher Assimilation. Genauso sind auch Alma Mahler-Werfels Tagebucheinträge aus der Zeit des Kennenlernens ihres zukünftigen Mannes voller Fremdheitseindrücke.
Dass Gustav Mahler während seiner Zeit an der Wiener Hofoper von 1897-1907 von antisemitischer Presse ständig unangenehm begleitet war und dass zu dieser Zeit Wien mit dem Bürgermeister Karl Lueger unter antisemitischer Stadtverwaltung stand, ist den Mahler-Kennern gut bekannt. Was K.M. Knittel in aller Deutlichkeit neu herausstellt, ist das komplexe Netzwerk von Stereotypen und verdeckten Antisemitismen, mit denen sich zahlreiche Karikaturen und Konzertkritiken in ihrer Argumentation auf Wagners berühmt-berüchtigten Aufsatz Das Judentum in der Musik (1850/1869) beziehen. Mit vielen schlagenden Beispielen weist Knittel nach, wie Wagners perfide jüdische Stereotype in den Wiener Premierenbesprechungen seiner Sinfonien variationsreich aufgegriffen werden. Material der Untersuchung sind Wiener Konzertkritiken zu den Premieren vor allem der ersten sechs Sinfonien (1900-1907) während Mahlers Zeit als Direktor der Hofoper, zum Vergleich Kritiken von Strauss Tondichtungen in Wien. Knittel führt vor, wie in verblüffender Deutlichkeit die Wagner‘schen Argumente, gerade weil so allgemein gehalten, in den Wiener Mahler-Kritiken so wirksam und anwendbar waren.
Ein zentraler Kritikpunkt der Zeitgenossen war, dass Mahler ein „verschämter Programmusiker“ sei: Aus der Tatsache, dass er die erste und dritte Sinfonie zunächst mit Programm, dann ohne aufführen ließ, wird ihm der Strick gedreht: „Plötzlich hat aber Gustav Mahler die Programmmusik wie einen lästigen Tenor oder eine Altistin einfach entlassen; seine Programm-Sinfonien werden uns jetzt als absolute Musik serviert“ (S. 76). Richard Strauss dagegen stehe dazu, sinfonische Dichtungen zu komponieren. Mahler wird zwar die „vollendete Beherrschung aller gegenwärtig sich darbietenden technischen Mittel“ zugestanden, es fehle ihm aber zum „großen Kunstwerk“ die „Macht der eigenen ehrlichen, künstlerischen Überzeugung“(S. 89). Die Besprechungen etwa seiner 5. Sinfonie hören Entlehnungen von Brahms, Haydn, Schumann und Humperdinck (S. 92f), das berühmte Tod in Venedig-Adagietto gilt als Persiflage seiner selbst. An Mahlers Orchestrierung wird kritisiert, dass die Verschwendung instrumentaler Mittel teilweise in umgekehrtem Verhältnis zur Kraft seiner Erfindung stehe.
Die Wirkmacht von Wagners binären Oppositionen in der antisemitischen Mahler-Interpretation sieht Knittel aber noch weit über die Wiener Premierenkritiken hinausreichend: Sie lasse sich bis in die Konstruktion von Adornos Mahler-Deutung nachverfolgen, wo Banalität und die angebliche Unfähigkeit zur Tiefe positiv umgedeutet, das Problem von „Mahlers musikalischem Judentum“ aber nicht gelöst werde. Insgesamt hat Knittel eine wichtige Studie vorgelegt, die aus englischsprachiger Sicht die untergründige Kontinuität alter Deutungsmuster anschaulich und höchst lesenswert zutage entlarvt. Alle ausgewerteten Quellentexte sind bequem auf Deutsch nachzulesen.
Hartmut Möller
Rostock, 03.04.2012