Cantagrel, Gilles: Musikhandschriften aus 10 Jahrhunderten – von Guido von Arezzo bis Karlheinz Stockhausen. Aus d. franz. von Egbert Baqué. – Dt. Erstausg. – München, Knesebeck, 2005. – 216 S.: 300 meist farb. Abb.
ISBN 3-89660-268-3 : € 39,95 (geb.)
Gilles Cantagrel, Musikwissenschaftler und ehemaliger Dirktor von Radio France Musique, geht der Frage nach, ob Temperament und schöpferischer Wille eines Komponisten bereits an seiner Handschrift ablesbar sind (S. 11). Aus diesem Grund hat er für den vorliegenden Band im Quartformat hundert Handschriften der klassischen Musik, Sonaten, Sinfonien oder Opernpartituren, zusammengetragen, die in chronologischer Folge angeordnet sind. Jedem Komponisten sind zwei Seiten gewidmet, die rechte zeigt ein ganzseitiges Notenbeispiel, die gegenüberliegende linke einen kurzen Text mit einem Portrait des Komponisten und weiteren kleinen Abbildungen (Notenbeispiele, Karikaturen, Figurinen oder zeitgenössische Darstellungen von Musik).
Die Einleitung könnte in die Irre führen: Es handelt sich keineswegs nur um faksimilierte Autographen, sondern auch um zeitgenössische Abschriften und Drucke.´
Das Buch beginnt mit den ersten Notenschriften des Abendlandes, dem Graduale von Laon aus dem 9. Jahrhundert und dem Tropus von Mainz (zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts), die graphische Zeichen (Akzente) über den Texten benutzen, um die Melodie wiederzugeben. Notensysteme, wie wir sie heute seit vielen Jahrhunderten benutzen, gab es noch nicht. Es folgt die guidonische Hand, mit deren Hilfe Guido von Arezzo Töne verdeutlichte. Kostbar illuminierte Codices des Mittelalters und der Renaissance mit Neumen und Mensuralnotation, Kostbarkeiten wie herzförmige Bücher oder Kompositionen in Kreisform (S. 30/31) sind ebenso enthalten wie ein prachtvolles, von Hans Mielich illuminiertes Chorbuch mit Kompositionen von Orlando di Lasso. Claudio Monteverdis Orfeo wird in einem zeitgenössischen Druck gezeigt. Alle „Großen“ Purcell, Mozart, Bach, Beethoven, Schubert, Rimskij-Korsakow, Strawinskij, Schönerg, Webern, Xenakis, Boulez, etc. sind zusammengetragen, der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf dem Repertoire des 18. bis 20. Jahrhunderts.
Graphische Notation steht auch am Ende des Überblicks: Ligetis elektronische Komposition Artikulation, die sein Verlag als Faksimile-Druck seiner Handschrift publizierte und Stockhausens Inori. Hier reichten die herkömmlichen Notensysteme nicht mehr aus, um die Komposition wiederzugeben. Ist die Notation nach 1.000 Jahren wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt??
Leider ist die Qualität der Wiedergabe nicht immer die beste: Bei zahlreichen Beispielen kneift man unwillkürlich die Augen zusammen, um ein schärferes Bild zu erhalten – vergebens (z.B. S. 20, 42, 99, 147, 149).
Das mag zwar zum einen teilweise mit vom Tintenfraß verursacht sein, hätte andererseits aber durch Schärferstellung der Linse bei der Reproduktion bzw. Auswahl einer anderen Seite vermieden werden können.
Ebenfalls unbefriedigend: Die Abbildungs- und Standortnachweise der Quellen sind nicht unter diesen selbst vermerkt, sondern alle zusammen am Schluß aufgelistet. Es fehlen (auch dort) die genauen Signaturen der Quellen, und, was mindestens genau so schwer wiegt, die Angaben, ob es sich um ein Autograph der Urfassung, eine autographe Abschrift, eine zeitgenössische Kopie oder einen Druck handelt (Letzteres kann man wenigstens in den meisten Fällen selbst feststellen). Schade!!
So bietet das prächtig ausgestattete Buch zwar einen schönen Überblick über Musikschriften, von den wunderbar illuminierten Notenschriften des Hochmittelalters bis zu den mathematischen Formel-Kompositionen der modernen seriellen Musik, es eignet sich aber eher als Bilderbuch denn für wissenschaftliche Zwecke. Und als schönes Geschenk zum Schmökern ist es allemal geeignet.
Jutta Lambrecht
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 236f.