Riccardo Muti: Mein Verdi / Hrsg. von Armando Torno. Aus d. Ital. von Michael Horst. – Kassel: Bärenreiter / Berlin: Henschel, 2013. – 159 S.
ISBN 978-3-89487-929-7: € 19,95 (geb.)
Komponistenjubiläen als ökonomische Gesundbrunnen sind für Verlage und Autoren seit längerem ein willkommener Anlass, Sichten, Deutungen und Perspektiven unterschiedlicher Provenienz zu verbreiten. Handelt es sich wie im vorliegenden Fall beim Autor gleichzeitig um einen berühmten Interpreten, kann man davon ausgehen, dass breites Publikumsinteresse vorhanden ist. Nun muss man aber gleich vorausschicken, dass der Autor nicht der eigentliche Autor und der Herausgeber nicht der eigentliche Herausgeber ist, sondern dass die Rollen etwas durcheinandergerieten und die Verlage den eigentlichen Sachverhalt auf der Haupttitelseite verschleiern. Der Herausgeber ist der Verfasser des Vorwortes in Personalunion mit der Funktion eines Ghostwriters, der aus seiner Verehrung für den Stardirigenten insofern keinen Hehl macht, als er die akustischen Verlautbarungen des Meisters während vieler Besuche gesammelt, „geordnet“, niedergeschrieben und mit einer Diskographie und einem Opernführer ausgestattet (oder soll man sagen aufgeplustert) hat. Die in sieben Kapiteln zusammengefassten Einsichten des interpretierenden Künstlers kommen in diesem speziellen Fall auf knapp 100 Seiten. Was Muti innerhalb dieses Spektrums zu sagen hat, ist zwar in Teilen durchaus substantiell, man ärgert sich allerdings über so manche unnötige Anekdote und die Vermarktungsstrategie der Verlage.
Es ist seit geraumer Zeit ja obsolet zu behaupten, die stilistische Deutungshoheit bestünde einzig und allein bei gleicher nationaler Herkunft, ergo könne nur ein Italiener das Werk eines Italieners kongenial interpretieren. Bezieht man sich auf den Buchtitel unter Verwendung des besitzanzeigenden Fürwortes „mein“ entsteht der Eindruck, dass das zumindest offiziell nicht intendiert ist. Andererseits gilt Verdi als der Komponist der „italianità“ und Muti verfügt natürlich wie alle anderen Italiener in der Vokalmusik über das native sprachliche Feingefühl, das dem Nicht-Italiener abgeht. Zwar gibt es jenseits von Semantik und Syntax vor allem in der Oper Stimmungen, Gefühlsebenen und nonverbal kommunizierte Informationen, die mit entsprechenden musikalischen Stilmitteln umgesetzt werden, aber das genügt laut Muti nicht. Handlungsleitend sollte sein, sich über das interpretatorische Können und die Beherrschung der Partitur hinaus auf die Individualität des Komponisten, seine Intentionen und das Zusammenspiel von Leben und Werk, mit anderen Worten Dichtung und Wahrheit, einzulassen.
Und da hat Muti natürlich allen anderen Verdi-Dirigenten eine Nasenlänge voraus. Seine intensive Beschäftigung mit dem Komponisten begann schon früh. Verdi gehörte zu den Hausgöttern des dilettierenden Vaters, die heimischen Blaskapellen schmetterten Verdi-Potpourris zu allen möglichen Festen, erste Opernbesuche folgten und führten u. a. zu dem Wunsch, die Musikerlaufbahn einzuschlagen. Bekannterweise entwickelte sich nach dem Klavier- und Dirigier-Studium eine rasante internationale Karriere (dazu noch Chefdirigent der Mailänder Scala 1986–2005), in deren Zentrum bis heute die Auseinandersetzung mit Verdis Schaffen steht. Mit Ausnahme einiger weniger Opern (der Luisa Miller verweigert er sich bis heute) hat Muti alle Vokalwerke vielfach aufgeführt und eingespielt. Er engagiert sich für „Werktreue“, die er dahingehend gefährdet sieht, dass in der Partitur traditionell radikal gekürzt wird, dass Tenöre und Soprane um der Strahlkraft ihrer Stimmen willen, willkürlich den Schlusston oktavieren oder ganze Akte nach unten transponieren (wie macht das eigentlich das Orchester?), damit der für den Hörer vermeintlich bravourös gesungene hohe Ton auch wirklich getroffen wird. Er wendet sich gegen interpretatorisches Pathos der Interpretation einerseits, andererseits gegen vom Dirigenten lieblos herunter gepinselte Orchesterbegleitung, die Verdi zu Unrecht den Namen eines „Humtata-Komponisten“ eingetragen haben und glänzt hier mit exzellenter Kenntnis des Werkes und der schriftlichen Auslassungen des Komponisten selbst, etwa zu aufführungspraktischen, literarischen, musiktheoretischen oder zeitgeschichtlichen Fragen. Gleichzeitig habe Werktreue nichts mit interpretatorischer Freiheit zu tun, Muti lehnt nur die Philologie um ihrer selbst willen ab, was die Erfolge seiner Interpretationen ja auch durch aus beweisen. Der Erkenntnisgewinn auch für Nichtmusiker ist nach der Lektüre durchaus gegeben, es hätte dazu nur wesentlich weniger Papier bedurft.
Claudia Niebel
Stuttgart, 03.10.2013