Schoenberner, Gerhard: Joseph Wulf. Aufklärer über den NS-Staat – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2006. – 61 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 39)
ISBN 978-3-938485-18-7 : € 5,90 (kt.)
An den 100. Geburtstag von Joseph Wulf war im Dezember letzten Jahres zu denken, und aus diesem Anlass entstand auch die Idee zu einer Rezension der bereits 2006 veröffentlichten Jüdischen Miniatur über ihn. Der Autor dieses Porträts ist inzwischen gestorben, auch er selbst war (auf deutscher Seite) einer der engagiertesten Aufklärer über die Verbrechen des NS-Regimes. Schoenberner war schon zu Lebzeiten des 1974 in den Freitod gegangenen Wulf einer seiner wichtigsten Unterstützer und Begleiter, und er setzte das Vorhaben Wulfs, die Ursachen und Gründe für das Morden zu finden und die Erinnerung wachzuhalten, fort. Schoenberners eigene Arbeiten als Filmhistoriker und dokumentarischer Beschreiber der Judenvernichtung waren und sind ein kleiner und schwacher Gegenbeweis gegen Wulfs Befürchtung, seine Arbeit wäre umsonst gewesen, sie würde in der schnell wieder zu Wohlstand gekommenen deutschen Gesellschaft nicht wahrgenommen und er könne nicht verhindern, dass der Völkermord an den Juden verdrängt und vergessen wird. Darf man heute optimistischer sein? Was die Aufarbeitung der Musik unter der NS-Diktatur betrifft, nur wenig.
Denn es bleibt wahr, was Wulf in der Einleitung zu seiner 1963 zum ersten Mal erschienenen und heute nicht mehr lieferbaren, aber weiterhin grundlegenden Dokumentation über Musik im Dritten Reich schrieb: dass die Bemühungen des nationalsozialistischen Staates dahin gingen, „eine bereits im deutschen Musikleben vorhandene Strömung weiterzuentwickeln. Selbstverständlich verabsolutierte das Dritte Reich diese Strömung.“ Aber: „Auf keinem Gebiet der Künste fanden die spezifischen Mittel der Macht des Dritten Reichs – Expansion und Selbstvergötzung – eine so gute Grundlage, solche Voraussetzungen für die eigenen Auffassungen und überhaupt für die ganze Einstellung vor wie gerade bei der Musik. Hier gab es daher kaum Usurpation. Die Forderungen schienen fast legitim zu sein.“ Wulf verwies energisch auf die Schriften Wagners (nicht nur die zum Judentum in der Musik) und Pfitzners und darauf, dass schon diese beiden deutschen Musiker energisch auf die Vernichtung aller anderen Strömungen, besonders des Jüdischen in der Musik, gedrängt haben. Wulfs Klarsicht ist heute kaum noch etwas hinzuzufügen, außer dass das Kontinuitätsproblem der deutschen Musik, die Verabsolutierung der eigenen Strömung, noch längst nicht überwunden ist. Die bis heute andauernde großzügige Ignoranz der offiziellen deutschen Musikwissenschaft gegenüber Wulfs Enthüllungen ist dafür charakteristisch.
Schoenberner zeigt kurz und knapp Wulfs Entwicklung: ein in Chemnitz geborener, in Krakau aufgewachsener, in Frankreich studierter Publizist, der sich dem jüdischen Untergrund anschließt und als Auschwitz-Überlebender eine jüdische Historiker-Kommission zur Wahrheitsfindung über die Schoa gründet, mit 40 Jahren in die ehemalige Reichshauptstadt kommt, um dort den geeignetsten Arbeitsplatz für seine Forschungen zu finden und hier – objektiv aber nicht neutral – zum ersten, großen und meist einsamen, sowohl mit großer Empathie mit den Ermordeten als auch wissenschaftlicher Exaktheit ausgestatteten Erforscher der Funktionsweise der nationalsozialistischen Diktatur wird. Schoenberner bettet diese ebenso produktive wie tragische Existenz ein in das taubstumme Klima der Restauration in Westdeutschland (und verschweigt den ebenso lähmenden, destruktiven und selbstgerechten, staatlich verordneten pauschalen „Antifaschismus“ in Ostdeutschland), in dem niemand daran dachte, aus seinen Enthüllungen irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Wulf kam einfach zu früh – verglichen damit, dass heutzutage die Widerstände, die ihm von deutscher Seite entgegengestellt wurden, überwunden scheinen. Schoenberners Miniatur ist nur ein Wegweiser, den von ihm gewiesenen Weg gehen, d.h. sich über den deutschen Sonderweg auch und gerade in der Musikgeschichte endlich Gedanken machen, das müssen die Musiker und Musikhistoriker nun selber tun.
Peter Sühring
Berlin, 02.06.2013