Jascha Nemtsov: Deutsch-jüdische Identität und Überlebenskampf. Jüdische Komponisten im Berlin der NS-Zeit [Peter Sühring]

Nemtsov, Jascha: Deutsch-jüdische Identität und Überlebenskampf. Jüdische Komponisten im Berlin der NS-Zeit – Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. – 354 S.: Notenbsp. u. Abb.; CD (Jüdische Musik ; 10)
ISBN 978-3-447-06269-5 : € 38,00 (kt.)

Stephan Stompor hatte in seinem 2001 posthum erschienenen ersten Versuch einer Gesamtdarstellung jüdischen Musik- und Theaterlebens im NS-Staat bemerkt: „Die Tätigkeit des Jüdischen Kulturbundes in Deutschland von 1933 bis 1941 und die gesamte Kulturarbeit im Widerstand fordert weitere Ermittlung und Analyse.“ Der Potsdamer Pianist und Musikhistoriker Jascha Nemtsov hat sich dieser Forderung gestellt und fünf nähere Untersuchungen über jüdische Musiker angestellt und ihre Resultate nun publiziert. Diese fünf Detailstudien von Einzelschicksalen jüdischer Musiker unter der Nazi-Diktatur bestätigen den damals wohl appellativ oder auch resignativ gemeinten Satz von Stompor auf eine konstruktive Weise. Dieses Buch ist in Verbindung mit Bemühungen entstanden, Überbleibsel einer nicht etwa nur „vergessenen“, sondern nie bekannten Musikkultur wieder aufzuführen. Von diesen Berliner Konzerten mit jener Musik, die in der erzwungenen Isolation und vor der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland noch entstehen konnte, ist auch ein vom Deutschlandfunk ein Mitschnitt gemacht worden, der als CD dem Buch beigelegt ist.
Selbst gutmeinende deutsche Musikhistoriker, unter ihnen der renommierte NS-Forscher Prieberg, haben es bisher nicht verstanden, die Bedeutung dieser Musik und ihrer Komponisten richtig zu würdigen. Im Gegenteil glaubte man, sie mit Produkten aus der NS-Kulturgemeinde in eine schräge Parallele setzen zu müssen. Auch jüdische Historiker fanden, die unter der Oberaufsicht der NS-Kulturbehörde entfaltete ghettoisierte Musikkultur der in Deutschland gebliebenen jüdischen Künstler hätte etwas mit Anpassung zu tun gehabt. So ist es sehr wertvoll, dass Nemtsov nun anhand der von ihm ausgewählten Beispiele zeigen kann, wie stark Teile dieser Musik mit avantgardistischen Bestrebungen der Musikerneuerung noch vor der Nazi-Diktatur verflochten waren. Zudem fand angesichts der Verfolgung eine Rückbesinnung auf nationalkulturelle Wurzeln religiöser und weltlicher Art im Rahmen der erzwungenen jüdischen Selbstbehauptung statt. Durch sie wurde die jüdische Musikkultur in Deutschland unmittelbar vor ihrer Auslöschung auf eine nie geahnte und gekannte Höhe gebracht. Es geht um Musik für den Konzertsaal und die Synagoge, es handelt sich um Musik im Anschluss an die avanciertesten Techniken europäischer Musik der dreißiger Jahre und um Aktualisierungen althebräischer Traditionen.
Es werden, versehen mit reichem Noten- und Bildmaterial aus Archiven in New York, Jerusalem und Berlin, sechs Musiker vorgestellt, die zum Teil noch ein Leben jenseits der NS-Diktatur führen konnten, bis auf Arno Nadel, der zusammen mit seiner Frau 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde, und Karl Wiener, der 1942 im KZ Sachsenhausen zu Tode kam. Jedem der Kapitel: über den vielseitig begabten Arno Nadel, über die Guttmanns (Vater Oskar und Sohn Alfred), Jakob Schönberg, Werner Seelig-Bass und Karl Wiener ist ein Anhang beigegeben mit Dokumenten, in denen die Musiker selbst in Form von Briefen und Artikeln zu Wort kommen.
Dieses Buch ist eine dringend nötige Ergänzung zu früheren Versuchen, die Geschichte der jüdischen Kultur unter der Nazi-Herrschaft zu erzählen, die fast nur den Institutionen und den nichtöffentlichen Veranstaltungen gewidmet waren. Nun kann man sich anhand biografischer Dokumente und Erzählungen in Verbindung mit den Hörbeispielen ein mit den realen Zeitverhältnissen verwobenes Bild machen. Das wirkt um so berührender und aufklärender, je mehr der einzelne Mensch in seinem Kampf um seine Existenz und seine schöpferischen Kräfte in den Vordergrund rückt.

Peter Sühring
Berlin, 19.10.2011

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