Mattig, Ruprecht: Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft. – Bielefeld: transcript, 2009. – 261 S.
ISBN 978-3-8376-1094-9 : € 27,80 (kart.)
Clapton ist „God“, James Brown immerhin „Godfather“, und Dylan gilt seinen Jüngern als „Meister“. Mag diese Verehrung auch ebenso albern sein wie die Ernennung Jackos zum König und Daniel Schuhmachers (wer?) zum Superstar, so offenbart sie doch eine spirituelle Ebene. Denn hält man sich die wohl überlegte Dramaturgie von Rockkonzerten vor Augen, liegen die Analogien zu den rituellen Handlungen einzelner Kirchen offen: Der Popstar als Zelebrant, der auf der erhöhten Bühne (= Altar) mit seinem Publikum (= Gemeinde) in Kontakt tritt; die Inszenierung, die sowohl Introitus (= effektgeladener Auftakt) als auch Responsorium (= „Jetzt singt mal alle mit!“) kennt.
Untersuchungen zur kultischen Verehrung von Musikern gibt es bereits, doch liegt jetzt mit der Arbeit von Ruprecht Mattig eine interessante und nachvollziehbare Betrachtung aus pädagogisch-anthropologischer Sicht vor. Die Veröffentlichung basiert auf Mattigs Dissertation an der FU Berlin und entstand im Rahmen der Berliner Ritualstudie (Chr. Wulf). Des Autors Ansatz ist naheliegend: Forschungsschwerpunkte der Anthropologie lagen bislang bei den traditionellen Gesellschaften Afrikas, Asiens oder Australiens. In der säkularisierten westlichen Gesellschaft verlieren Ritual, Zauber, Magie und Religion zunehmend an Bedeutung. Das Bedürfnis nach Spiritualität einerseits und die Notwendigkeit von Initiationsriten andererseits aber werfen die Frage auf, ob es auch in der modernen Gesellschaft Prozesse gibt, die mit denen der traditionellen vergleichbar sind. Ausgehend von dieser Fragestellung – deren Bejahung durch Mattig folgt – baut der Autor eine überzeugende, wenn auch mitunter weitschweifige Beweiskette auf.
Im ersten der vier Hauptkapitel werden Begriffe wie „Ritual“ oder „Popmusik“ geklärt. Es folgt eine Untersuchung über die Kennzeichen von Jugendritualen, insbesondere von „Liminalität“, „Communitas“ und „Anti-Struktur“. Schließlich überträgt der Autor die Konstrukte auf Popmusik und belegt seine Schlussfolgerungen durch qualitativ-sozialwissenschaftliche Analysen und Fallbeispiele. Aus musikwissenschaftlicher Sicht sind die musikbezogenen Aussagen wegen ihrer Verkürzung mitunter problematisch. Den Rock ‚n’ Roll als ersten „Crossover“-Stil zu bezeichnen (S. 70), missachtet beispielsweise die Hauptkriterien populärer Musik seit ihrer Entstehung. Doch wäre es fahrlässig, Mattigs Arbeit darauf zu reduzieren, ist ihre geisteswissenschaftliche Heimat doch eine andere. Denn es ist gerade des Autors Verdienst, seine Grundthesen auch für Nicht-Volkskundler so verständlich darzulegen, dass man seiner Bewertung zustimmen kann. Praktische Auswirkungen kann das Buch sicherlich auf die pädagogische Arbeit haben; doch auch Musikologen könnte es gelingen, manches anscheinend unsinnige Phänomen aus der Jugendkultur besser einzuordnen.
Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 274f.