Leopold, Silke: Händel. Die Opern. – Kassel: Bärenreiter, 2009. – 323 S.
ISBN 978-3-7618-1991-3 : € 39,95 (geb.)
Händels Opern sind heutzutage auch in den Spielplänen der stehenden Opernbühnen so allgegenwärtig, dass der Autorin die Zeit reif schien, über unser kulturelles Klima und darüber, wodurch es mit dem musikalischen Menschenbild Händels verknüpft ist, einmal gründlich nachzudenken. Die szenischen Möglichkeiten der heutigen Bühnen scheinen ihr sogar auch in der Lage, die Abgrenzung zum Oratorium zu überspringen und sinnvolle Inszenierungen von deren konzertanter Musik, des simultanen Theaters im Kopf des Hörers, zu realisieren. Unsere Zeit schien ihr auch reif, eine „übergreifende Bewertung“ (S. 25) und „synthetische Darstellung“ (S. 26) des Opernschaffens Händels zu wagen. Nach der Lektüre dieser Synthese und Bewertung, die Leopold auf gut 170 Seiten dieses zweigeteilten Buches unternimmt, hat man den Eindruck, dass sie sich nicht irrte, ja, dass es ihr gelungen ist, beides in einer glänzend lesbaren Form zu leisten – ein seltener Glücksfall dieser Sorte von generalisierender Literatur also (der ja oft der Blick vom strategischen Hügel aus nicht gut bekommt, was zuweilen zu gewalttätigen Urteilen oder Irrtümern führt) und darum unbedingt anschaffenswert.
Denn hier wird alles von gebotener, sich selbst befragender Vorsicht begleitet, so dass letztlich der Eindruck überwiegt, Leopolds Beschreibungen und Klassifikationen seien psychologisch triftig, historisch belegt, nachvollziehbar und nicht zuletzt auch klarsichtig durch den Mut zur Phantasie. Sie macht Händels Künstlertum einsichtig als das eines besonderen Menschen, dem es gelingt, originell zu sein, ohne den Rahmen der ihm gesetzten Konventionen, z. B. den des dramma per musica, der opera seria, zu sprengen. Ihre Analysen seiner Eröffnungsszenen und seiner Finali, seines Umgangs mit den Gefühlen der Akteure mithilfe dessen, was sie Affekt-Chiffren nennt, ihr Plädoyer für Händels Art, die Da-capo-Arie mit Leben zu füllen, indem er diese geschlossene Form offen ausgestaltet, ihrer Schablone unbegrenzte Möglichkeiten entlockt, ihre Entwürfe von musikalischen Topographien, die Händels Musik evozieren, ihre Galerie der Händelschen Frauenporträts, ihr Aufspüren des Komischen im Ernsten und des Tragischen im glücklichen Ende – all diese Einsichten gewinnt sie aus einer Betrachtungsweise, die sie damit vergleicht, einem Autor über die Schulter zu schauen.
Gewagt ist der zweite Teil des Buches. Auf knapp einhundert Seiten werden die Opern alphabetisch abgehandelt nach Text, Stoffquellen, Besetzung, Aufnahmen und Handlung, ohne ein einziges Wort über die Musik zu verlieren. Das ist gewiß Absicht und lässt sich nur akzeptieren, wenn man zugleich Gebrauch macht von Werk- und Figurenregister, die mitteilen, auf welchen Seiten der Synthese über einzelne Opern und Arien gesprochen wird. So findet man, wenn man sich von einzelnen Stücken her der Zusammenfassung nähern will, den Zugang, immer dann, wenn Leopold es als Beispiel für etwas Händel Umgreifendes anführt.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 334f.