History / Herstory. Alternative Musikgeschichten / Hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2009. – 430 S.: Abb. (Musik – Kultur – Gender ; 5)
ISBN 978-3-412-20243-9 : € 42,90 (kart.)
Die betrübliche Tatsache, daß auch auf dem Feld der Musik history fast immer nur his story wiedergibt, veranlaßte die Herausgeberinnen mit dem reizenden Wortspiel herstory zu hantieren, aber: Immer, wenn lange vernachlässigte und unterdrückte Aspekte der (Musik)Geschichte endlich aus dem Dunkeln, wo man sie nicht sah, ans Licht geholt werden, beleuchtet man sie etwas grell, quasi aus Gründen ausgleichender Ungerechtigkeit, in der nun das Geschlecht mit umgekehrten Vorzeichen eben doch wieder (oder noch) ein Auslesekriterium ist. Und das Thema wird Kult. So auch der sogenannte Gender-Aspekt, der, seit man (mehr Frau als Mann) entdeckte, daß das Geschlecht nicht nur Sex, sondern auch Sitte ist, als kulturell geprägtes Geschlecht also, zu einem karrieretauglichen Forschungsgegenstand auch in der Musikwissenschaft wurde. Zu beklagen ist das inhaltlich nicht, nur die entsprechenden Begleitumstände sind manchmal etwas aufdringlich und gemahnen an eine neue Form allzu absichtsvoller Menschheitsbeglückung. Ein neues Haus der Musikgeschichte soll gebaut werden, eine Einladung, daran mitzubauen, ergeht an alle Muwis guten Willens. Alternativen zu den bestehenden, akademisch abgesicherten Einseitig- und Eintönigkeiten sind sicher äußerst wünschenswert und der Bauplan zu einem „neuen Musikhaus“ sieht vor, daß es keine dunklen Ecken und toten Winkel mehr geben soll. Dazu wird auch (vielleicht eher etwas zu wenig) an schon früher innerhalb der Fachgeschichte formulierte Alternativen angeknüpft und werden bisher unterbelichtete Traditionen aufgegriffen, denn das gute Neue wird wohl, wenn man die Geschichte der Musik recht bedenkt, immer nur das um seine Möglichkeiten geprellte andere oder sogar manchmal bessere Alte sein.
Der Feminismus, von dem die neueren Geschlechtstheorien sich absetzen wollen, weil er noch von der in ihren Augen überholten Vorstellung ausging, Weiblichkeit (resp. Männlichkeit) wäre mehr als nur kulturelles Konstrukt und hätte etwas mit real existierenden Frauen (resp. Männern) zu tun, begann im späten Mittelalter, und so ist es nur recht und billig, auf die Rolle der Trobadoras, auf Boccaccios Sammlung von Frauenporträts und Christine de Pizans Stadt der Frauen zu sprechen zu kommen, in denen eine Utopie anderer Geschlechterrollen aufblitzte. Kreutziger-Herr kann in ihrem Plädoyer für ein neues, history und herstory zuammendenkendes musikgeschichtliches Curriculum auf Wolfgang Mozarts Wertschätzung seiner Schwester Marianne als hervorragender, aber verhinderter Pianistin, für die er gerne seine Wiener Klavierkonzerte geschrieben hätte, und auf das zweite Repertoire der Diseuse Yvette Guilbert mit ihren Interpretationen mittelalterlicher Chansons verweisen. Abgesehen von dem etwas doktrinären (typisch männlichen?) Referat von Stefan Horlacher haben fast alle Autor(inn)en ihre Geschichten und Interpretation, auch die vom Gegenstand ausgehend abstrahierenden, ihre konkreten historischen Bezüge, die von der Antike bis zur Black-Metal-Szene reichen. Dieser Sammelband eröffnet und repräsentiert ein weites Feld, das sich auf Dauer in den Forschungshorizont der Zunft integrieren ließe, wenn denn, wider Erwarten, einmal deren Mehrheit sich des angeblichen Minoritäten-Phänomens Weiblichkeit gutwillig annähme. Er gehört in jede wissenschaftliche Musikbibliothek, in denen bei den Nutzer(inne)n inzwischen das weibliche Geschlecht überwiegen soll.
Noch zwei Vorschläge zur Güte für neue herstories: Antoinette-Christine-Marie Bobillier (1858–1918), die in einem 35jährigen wahrhaften Schaffensrausch unter dem männlichen Pseudonym Michel Brenet bahnbrechende Studien publizierte, hielt es mit ihrem äußerst kritischen Geist für erforderlich, eine Methode strenger Arbeit zu begründen. Yvonne Rokseth (1890–1948), erste universitäre (wenn auch „außerordentliche“) Musik-Professorin überhaupt, an mathematischen Methoden geschult und ausgezeichnet mit der Médaille de la Résistance. Beide Nachlässe liegen unerschlossen in der Bibliothèque Nationale in Paris.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 149f.