Tina Frühauf: Salomon Sulzer. Reformer, Kantor, Kultfigur / Reformer, Cantor, Icon [Peter Sühring]

Frühauf, Tina: Salomon Sulzer. Reformer, Kantor, Kultfigur – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2012. – 82 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 133)
ISBN 978-3-942271-86-8 : € 8,90 (kt.); auch in engl. als Jewish Miniatures ; 133A

Pünktlich zum 2. Lewandowski-Festival in Berlin, zu dem sich im Dezember 2012 Synagogen-Chöre aus mehreren Ländern und Kontinenten in Berlin versammeln, ist eine weitere Jüdische Miniatur erschienen, die sich einem der bedeutenden, international wirksamen Reform-Synagogenmusiker des 19. Jahrhunderts widmet. Salomon Sulzer (1804–1890) hat aber nicht nur mustergültige rezitativische und chorische Kompositionen für die synagogale Liturgie hinterlassen, die bis heute in konservativen und liberalen Gemeinden weltweit gesungen werden, sondern war schon zu Lebzeiten auch außerhalb der jüdischen Gemeinde Wiens unter nichtjüdischen Musikern und Musikliebhabern berühmt. Seine Tätigkeit als Haupt-Kantor des Wiener Stadttempels umfasste mehrere Jahrzehnte, während derer er auch von vielen Nichtjuden besucht, gehört und wegen seiner einmalig schönen Stimme begeistert aufgenommen wurde (Nikolaus Lenau, Robert Schumann und Franz Liszt haben darüber berichtet). Er war es auch, der Franz Schubert beauftragte, eine mehrstimmige Vertonung des 92. Psalms in hebräischer Sprache anzufertigen, die er dann allerdings metrisch-rhythmisch nachbessern musste. Solange es seine Gemeindeoberen erlaubten (und auch danach noch heimlich), sang Sulzer gerne auch weltliche Lieder von Schubert in öffentlichen Konzerten und halböffentlichen Zusammenkünften; seine Eigenkompositionen von Handwerks- und Revolutionsliedern erreichten während der Unruhen im März 1848 ihren Höhepunkt. An den antikaiserlichen Protesten dürfte ihn vor allem die Forderung der Republikaner nach einer Gleichstellung der Juden interessiert haben.
Sulzers Hauptarbeitsfeld lag natürlich in der Reform der synagogalen Liturgie, deren zeitbedingte Notwendigkeit er vor allem darin sah, einerseits die althebräischen Melodien unverfälscht zu restituieren, andererseits sie zeitgemäß, nach den Errungenschaften der mitteleuropäischen Tonkunst zu harmonisieren und sie chorisch oder mit moderner Orgelbegleitung aufzuführen. Beides, die Einführung des mehrstimmigen Gesangs wie der Orgel in die Synagogen-Liturgie war umstritten, und die Debatten, die darüber zwischen den jüdischen Kantoren und den rabbinischen Gemeindevorständen geführt wurden, ähneln sehr denen in den christlichen Kirchen. Zwar war der mehrstimmige Gesang in den christlichen Kirchen seit Jahrhunderten zur Tradition geworden, er wurde aber nicht so sehr von der Orgel als von der Zunahme weiterer Orchesterinstrumente verdrängt, so dass eine A-cappella-Bewegung entstand, die das Überwuchern des Gesangs durch Instrumente rückgängig machen wollte. Als E.T.A. Hoffmann 1812 seinen berühmten Artikel über „alte und neue Kirchenmusik“ schrieb, war die Besinnung auf die kirchliche A-cappella-Tradition schon im vollen Gange und fand ihr Echo auch in der Synagogenmusik. Sulzers Begeisterung für die Orgel ging allerdings so weit, dass er sie nicht nur pragmatisch zur Unterstützung des Gemeindegesangs eingesetzt wissen wollte, sondern auch zur musikalisch wertvollen Begleitung der Sologesänge des Chasans und neuer chorischer Gesänge des Chasans mit seinen Assistenten. Dieses positive Urteil Sulzers über die Orgel, das seine Biografin als Organistin natürlich teilt, mag unter Umständen befremden, wenn man bedenkt, dass gerade dieses Instrument nicht atmet, d.h. keine an die Erfordernisse der menschlichen Stimme angepasste Spielweise hat, sondern in einem ununterbrochenen Strom erklingt, was auch gerade von vielen christlichen Cäcilianisten und A-cappella-Apologeten an ihr bemängelt wurde. Hoffmann stützte sich bereits auf kirchenmusikalische Artikel von Herder und Reichardt aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, noch wichtiger wäre im Zusammenhang der Reform der Synagogen-Liturgie aber ein Hinweis der Autorin auf die noch früheren Stellungnahmen Moses Mendelssohns gewesen, der bereits 1754 im zweiten seiner „Briefe zur Kunst“ den Gesang zur Ehre Gottes (womit er nur den Synagogengesang gemeint haben konnte) gegen die Instrumentalmusik verteidigte.
Frühaufs biografisch-musikgeschichtliche Einführung zu Sulzer ist ansonsten sehr kenntnisreich und einleuchtend geschrieben. Es gelingt ihr auch, die wahre Bedeutung Sulzers jenseits der vielen, seine Rolle überhöhenden und entstellenden Legenden darzustellen, so dass mit diesem Büchlein eine vorurteilsfreie, gut recherchierte, moderne Darstellung seiner für die jüdische und nichtjüdische Welt bedeutenden und zu Herzen gehenden Musik entstanden ist, mit deren Hilfe sich viele an jüdischer Musik Interessierte aufklären und informieren sollten.

Peter Sühring
Berlin, 19.12.2012

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