Stefan Wolitz: Fanny Hensels Chorwerke

Wolitz, Stefan: Fanny Hensels Chorwerke. – Tutzing: Schneider, 2007. – 292 S.: No­tenbsp., Abb. (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft ; 42)
ISBN 978-3-7952-1252-0 : € 48,00 (geb.)

Inzwischen darf man davon ausgehen, daß Fanny Mendelssohn-Hensel (1805–1847) nicht mehr die verkannte Schwester ihres Bruders Felix, sondern als eine der bedeu­tendsten Komponistinnen des 19. Jahrhunderts anerkannt ist, wenn es auch der offizi­elle Konzertbetrieb noch nicht gemerkt hat. Wie weit das den sog. Gender und Cultural Studies, mit denen der Autor dieser Doktorarbeit sich etwas krampfhaft auseinander­setzt, zu verdanken ist, mag dahingestellt bleiben. Den verschiedenen Diskriminie­rungen, denen Fanny Hensel als jüdische Künstlerin ausgesetzt war, haben nicht nur dazu beigetragen, daß ihr Werk schlecht überliefert wurde, sondern sicher auch dazu, daß sie in ihrer musikalischen Produktivität schon zu Lebzeiten gehemmt war. Hier ist die von Virginia Woolf aufgeworfene Frage: Was, wenn Shakespeare eine Frau gewesen wäre? weiterhin angebracht. Von den spannungsreichen Beziehungen zu ihrem Lehrer Zelter, ihrem Ehemann Hensel und ihrem Bruder Felix, der sich wohl einiges bei ihr abguckte, um es dann wirkungsvoll zu veröffentlichen, wurde sie überanstrengt.
Der Autor verbindet musikalische und kulturgeschichtliche Analyse, wie es sich ge­hört und auch früher schon in den besseren Studien üblich war und hätte dies nicht mit einer modischen Adaptation kulturwissenschaftlicher Terminologie zu rechtfertigen brauchen. Im Falle von Fanny Hensel geht es allemal darum, ihren Weg als Komponis­tin durch zwei prägende Komponenten des damaligen Zeitgeistes zu beschreiben: den Mißbrauch der Musik J.S. Bachs zur nationalen Identitätsstiftung und den Goethekult. Für eine jüdische Musikerin, die sich an die bildungs- und besitzbürgerlichen Kreise Deutschlands akkulturalisieren und assimilieren wollte, war das ein dringendes Gebot.
Diese Komponenten kommen besonders in ihren Chorwerken zum Ausdruck, während sie in ihrer Kammermusik schon andere Perspektiven erkennen läßt. Ihre kulturprotestantische Erziehung gestattete ihr ein schöpferisches Anknüpfen an ba­rocke Kompositionsmuster vor allem Bachs und Händels, aber auch an oratorische und musiktheatralische Elemente von Haydn und Mozart. Es gelingt dem Autor aber auch, ganz eigene Stilelemente Fanny Hensels herauszuarbeiten. Die Werke, in denen sie am meisten experimentierte: Hiob, ihre Musik für die Toten der Berliner Cholera-Epide­mie von 1831, eine geistliche Kantate ganz neuer Form und ihre Szene aus dem Anfang von Goethes Faust II werden hier entsprechend ausführlich dargestellt und kritisch gewürdigt. Angebliche satztechnische Schwächen in Hensels St.‑Cäcilien-Messe kann Wolitz mit ihren Absichten erklären, den in ihren Augen erbärmlichen Stil der katho­lischen Kirchenmusik von damals, den sie auf ihren Italienreisen erlebte, zu persiflie­ren. Zur Gattung des Chorliedes hat Fanny Hensel prägendes beigetragen. Nun sind der Konzertbetrieb und die CD-Industrie gefragt, das Ganze zugänglich zu machen.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 29 (2008), S. 351f.

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