Klaus Tischendorf: Norbert Burgmüller. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis

Tischendorf, Klaus: Norbert Burgmüller. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis / unter Mitwirkung von Tobias Koch hrsg. in Zusammenarbeit mit Norbert-Burgmüller-Gesellschaft Düsseldorf. – Köln: Dohr, 2011. -  224 S.: Notenbeisp., Abb., 32 Bildtafeln
ISBN 978-3-936655-63-6 :  € 49,80 (geb.)

Kein wirklicher Kenner der Musikgeschichte, auch in ihren nicht-kanonisierten Verzweigungen, wird den Rang einiger Werke Norbert Burgmüllers (1810-1836), dieses früh verstorbenen Talents, bezweifeln, sondern sich wünschen, dass sie öfter aufgeführt werden. Wie immer man ihn qualifizieren und titulieren wollte, Burgmüller war sicher einer der begabtesten Musiker und Komponisten nach Beethoven und gleichzeitig mit Mendelssohn. Viele maßgebliche Zeitgenossen haben seine Werke gekannt, aufgeführt und gefördert. Über seinen plötzlichen und bis heute rätselhaften Tod war die damalige Musikwelt bestürzt. Nach 26 Lebensjahren hatte Burgmüller 46 Werke hinterlassen, von denen einige noch unveröffentlicht oder sogar nur fragmentarisch überliefert waren. Neben 17 von ihm selbst oder (anlässlich von deren Drucklegung) von der Nachwelt mit Opuszahlen versehenen Werken existieren weitere 29 Werke ohne Opuszahl (WoO). Auffallend ist der Gattungsreichtum dieser relativ überschaubaren Werkmenge: Der frühreife Düsseldorfer Komponist hinterließ Vokalwerke für die Bühne und die Kirche, Klavierlieder, Klavierstücke und ein Klavierkonzert sowie vier Streichquartette und zwei Sinfonien. Alles einmal bis ins Einzelne aufzuführen und nach den wissenschaftlichen Standards von Werkverzeichnissen zu beschreiben und qualitativ zu katalogisieren, ist durchaus ein lohnendes Unterfangen und kann allen mit der Musikgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder allen praktisch mit der Aufführung von Burgmüller-Werken befassten Musikern sehr nützlich sein.
Diese Aufgabe wird von diesem Werkverzeichnis und zugleich bebilderten Lesebuch unter anderem auch erfüllt und sogar übererfüllt, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der Autor wolle mit seinen akribisch aufgeführten Aufführungsprotokollen und -Dokumenten die Musikgeschichte umschreiben und nach einem Motto von Toscanini dafür sorgen, dass „ein Musiker aus der zweiten Reihe schon Morgen in der Ersten steht“ (S. 18). Bei aller Liebe zu den Außenseitern in der Musikgeschichte kann so etwas nicht gelingen. Das liegt aber nicht nur an der Ignoranz der Nachwelt, sondern auch an dem schmalen und zum Teil unvollendet hinterlassenen Werk Burgmüllers, in dem sich Überragendes mit Konventionellem mischt. Burgmüller teilt sein Schicksal mit einer großen Zahl bedeutender Zeitgenossen, mit denen er zum Teil befreundet war, die zwischen den kanonisierten und zu Heroen stilisierten Vertretern der Musikgeschichte zermahlen wurden. Dagegen hilft keine neue Heroisierung, sondern nur der stete Hinweis, dass auf den Nebenstraßen der Musikgeschichte herrliche Entdeckungen zu machen sind, die den Kanon und das Aufführen ausschließlich immer der gleichen Werke als ein unsinniges Ritual erscheinen lassen.
Dieser erweiterte Katalog ist mehr als ein Werkverzeichnis, was für den Gesamteindruck nicht nur von Vorteil ist. Der Autor hat absichtlich mindestens ein weiteres Buch in dieses Werkverzeichnis eingewoben, das er „ein Lese- und Bilderbuch zu Norbert Burgmüller“ (S. 8) nennt. Um den Charakter eines beschreibenden und räsonierenden Katalogs zu wahren, wäre es besser und ehrlicher gewesen, dieses eingeflochtene und oft als überladen, also störend empfundene zweite Buch gesondert herauszugeben.
Es ist völlig unbestritten, dass wir in der Person Klaus Tischendorfs über den denkbar bestinformierten Menschen verfügen, der alles Wissenswerte und einiges darüber hinaus über Burgmüller gesammelt und katalogisiert hat und zu interpretieren weiß. Aber auch zu Dingen, die den Kern der Rubriken eines gut brauchbaren Werkverzeichnisses betreffen, gibt es gegen einige Entscheidungen und Verfahrensweisen Tischendorfs kleinere Einwände zu machen. Es scheint zweifelhaft, ob den von Tischendorf mit enormen Fleiß gesammelten und in Musikbibliotheken weltweit nachgewiesenen Erstdrucken von Werken Burgmüllers der Rang einer „Quelle“ zugestanden werden kann. In der Regel werden historische Abschriften oder gar Erstdrucke als Ersatzquelle höchstens dann anerkannt, wenn die Autographe verschollen sind. Hier aber fungieren diese Erstdrucke, die auch meist unter der Rubrik („Herausgabe“) nochmals, also verdoppelt genannt sind, irritierenderweise als Quellen. Ein ähnliches Problem ergibt sich unter der Rubrik „Erstaufführung“. Diese oftmals befremdlich in den Plural gesetzte und mehrere „Erstaufführungen“ umfassende Auflistung ergibt zusammen mit der Rubrik „Weitere Aufführungen“ eine vermutlich komplette Auflistung aller seit der Uraufführung bis zur Erstellung dieses Werkverzeichnis vorgekommenen Aufführungen einzelner Werke, was nun wirklich nicht der Zweck eines Werkverzeichnisses sein kann. Dies hängt mit der Neigung des Autors zusammen, die Nachwirkung der Musik Burgmüllers bis zur aktuellen Aufführungspraxis zu unterstreichen. Überhaupt gewinnt die Rezeptionsgeschichte durch zum Teil recht ausführliche Zitate aus zeitgenössischen Werkbesprechungen (darunter prominente wie solche von Robert Schumann) und spätere Aufführungskritiken ein Übergewicht in diesem Katalog. Der Autor hat dieses Thema bewusst, wie er selbst sagt, in das Werkverzeichnis eingearbeitet, es gehört aber in ein zweites, anderes Buch, das wohl den Charakter einer Dokumentation der Wirkungsgeschichte Burgmüllers haben sollte. Im Rahmen eines Werkverzeichnisses wirkt es etwas deplatziert und folgt der weit verbreiteten Tendenz, die Rezeption (und sei sie auch eine so leicht überschaubare wie die Burgmüllers) zu überschätzen. Gefährlich wird es bei einer kommentarlosen Wiedergabe von lobenden Äusserungen von Musikschriftstellern aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die dem nationalsozialistischen Zeitgeist hörig waren. Denn auch Missbrauch Burgmüllers für deutschtümelnde Propaganda gehörte mit zur Rezeptionsgeschichte.
So weit im Moment absehbar, wird es zu diesem mit konzeptuellen Fehlern behafteten Werkverzeichnis aus der Feder eines Kenners wie Tischendorf vorerst keine Alternative geben, so dass dieses Buch als zuverlässig beschreibender Werkkatalog und weitschweifiges Lesebuch zu Burgmüller, das mit aufschließenden Registern versehen ist, eingeschätzt und empfohlen werden kann.

Peter Sühring
Berlin, September 2011
Zuerst veröffentlicht in Fontes Artis Musicae 58 (2011), S. 341-343

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