Beatles-Special

Das vergangene Jahr 2005 war für Beatles-Liebhaber, Pop-Musikologen und Zahlensymboliker von besonderer Bedeutung. Ein halbes Jahrhundert vorher gründete John Lennon die Quarry Men. Fünf Jahre nach diesem denkwürdigen Ereignis erlebten die jungen Musiker aus Liverpool ihre Feuertaufe auf der Hamburger Reeperbahn. Nach einer weiteren Dekade weinte die Welt über die Auflösung der erfolgreichsten Pop-Band aller Zeiten, die mit der Ermordung John Lennons (wiederum zehn Jahre später) endgültig und unwiederbringlich zur Musikgeschichte wurde. Besonders das letztgenannte Ereignis schlug sich sowohl in Wiederveröffentlichungen von Lennons Soloalben als auch in einer breiten Berichterstattung in Rundfunk, Fernsehen und Tagespresse nieder. Eine ähnliche Beachtung fanden die verschiedenen Jahrestage in einer Vielzahl von Veröffentlichungen der Fachliteratur und Belletristik, aus der im folgenden eine Auswahl vorgestellt werden soll. Bezeichnend hierbei ist die stilistische Vielfalt, mit der sich Autoren, Herausgeber und Verlage dem Thema widmeten. Die Bandbreite reicht von Kurzgeschichten und Roman über Bildbände und Biografien bis zu Erinnerungen aus dem Umfeld der Fab Four. Dabei spiegeln die nachfolgenden Besprechungen nur einen Teil der Veröffentlichungen wider, da sich einige Verlage leider nicht entschließen konnten, Rezensionsexemplare zur Verfügung zu stellen.
Ein höchst vergnüglicher und kurzweiliger Einstieg bietet sich mit Friedrich Christian Delius’ Die Geschichte mit Paul McCartney an. Der Autor, der sich in seinem letzten Roman Mein Jahr als Mörder (2004) mit dem tragischen Schicksals des Widerstandskämpfers Georg Groscurth beschäftigte, hat sich für den beim Berliner Transit Verlag erschienenen Band mit Kurzgeschichten ein völlig anderes Thema herausgesucht. Ihren Anfang nimmt die Geschichte bei Delius an einem August-Tag des Jahres 1967 im Londoner Regent’s Park. An eben diesem Ort wird sie auch abgeschlossen, nur wenige Minuten später. Die Dramaturgie sieht ein Fußballspiel zweier jungen Männer vor, das durch einen Hund gestört wird, dessen Besitzer, Paul McCartney, eine kurze Auszeit während der Aufnahmen zum Sgt.-Pepper-Album nimmt. Beendet wird das Intermezzo durch mehrere kreischende Mädchen, vor denen der Beatle schließlich reißaus nimmt. Mehr ist nicht vorgefallen, doch Delius nimmt die Begegnung zum Anlass, sie in 66 als „Memo-Arien“ bezeichneten Varianten nachzuerzählen. Das ganze Instrumentarium der Literaturwissenschaft wird hier bemüht: Konjunktivisch oder mit Verneinung, als japanisches Haiku oder sozialistisches Manifest, mit Fremdwörtern gespickt oder als Bildbeschreibung gestaltet – Delius hat sich eine wohltemperierte Materialsammlung geschaffen, in der er jede Tonart mühelos erreicht und überdies übermütig selbst mit den abwegigsten Skalen experimentiert („P wie Paul: … Nun platzte der prominenteste Prinz des Pop, Paul persönlich, der gerade die Sgt. Pepper-Platte promovierte, auf den Parcours, prüfte das Problem und plauderte etwas in poetischer Pose.“, S. 18). Musikologisch – oder besser: beatologisch – betrachtet ist Friedrich Christian Delius eher unergiebig. Wer sich bislang unbekannte Details zur Mikrofonaufstellung bei der Aufnahme zu A Day in the Life oder ähnliche Infos zum Sgt.-Pepper-Meisterwerk erhofft, wird enttäuscht. Wer sich aber – neben Sprachforschern und Literaturbegeisterten, die Delius’ Band höchstwahrscheinlich ohne Pause durchlesen – für die oftmals obskure Lyrik der Beatles interessiert, dem werden auch die hier versammelten Variationen viel Freude bereiten. Und schließlich lassen sich mit etwas Mühe (und die ist bei der Beatles-Exegese ohnehin vonnöten) auch tiefsinnige Betrachtungen aufstellen: So ähnelt die Beiläufigkeit, mit der McCartney auf- und wieder wegtaucht, der Begegnung, an die sich der amerikanische Autor Ken Kesey in Now We Know How Many Holes It Takes to Fill the Albert Hall (1981) erinnert. Und auch die Tatsache, dass es bei Delius Paul McCartney und nicht John Lennon war, der sich von den Aufnahmesessions erholen musste, wird Insider nicht erstaunen: Schließlich hat der nette Paul das Album wegen John Lennons damaliger umnebelter Arbeitsweise fast im Alleingang aufgenommen.
Eine weitere fiktive Beschäftigung mit der Liverpooler Band legt der 1962 geborene Schriftsteller Gerhard Henschel bei Hoffmann und Campe (Hamburg) vor. Der dreizehnte Beatle ist in diesem Fall eine – wie er selbst schreibt – „verkrachte Existenz“ von 36 Jahren, der nach 19 Semestern Philosophie-Studium und mit einer ans Fanatische grenzenden Leidenschaft für die Beatles einer Fee begegnet, die ihn mit einem geldspuckendem Portemonnaie ins Jahr 1966 zurückversetzt. Die Datumswahl kommt nicht von ungefähr, hat der Protagonist, der sich fortan Billy Shears nennt (und damit auf einen Charakter des erst 1967 erscheinenden Sgt.-Pepper-Albums verweist) doch eine wichtige Mission. Beeinflusst von einer jahrzehntelangen Pop-Propaganda reduziert Shears die Trennung der Beatles auf einen Grund, nämlich auf das Erscheinen von Yoko Ono. Der Plan sieht nun vor, die erste Begegnung von Lennon und Ono im Jahr 1966 zu verhindern und somit der Band eine längere Lebenslaufzeit zu gewähren. Selbstredend geht das Vorhaben schief: Lennon hat einen Unfall, versinkt ins Koma, und Shears hat danach alle Hände voll zu tun, das nun entstandene Chaos zu bereinigen. Der Plot klingt vielversprechend und Henschel gelingt es, zumindest in den ersten Kapiteln, die Faszination von Zeitreisen und damit einhergehender Kausalitätsproblematik geschickt mit seinem beeindruckendem Fachwissen über die Popmusikhistoire zu verknüpfen. So läuft Billy Shears in London allen aufstrebenden Popstars der damaligen Zeit über den Weg und warnt diese, an bestimmten Tagen in der Zukunft zu viele alkoholische oder bewusstseinserweiternde Substanzen zu konsumieren oder statt des Flugzeugs lieber den Zug zu wählen. Dutzende von jäh abgebrochenen Musikerkarrieren hätte Shears retten können, wäre seinen Prophezeiungen Glauben geschenkt worden. Doch liegt genau hierin die Schwäche des Buches. Akribisch zusammengetragene Informationen mit Detailtiefe, lexikalisch geordnet und bezüglich des Nutzwertes im Einzelnen nicht immer eindeutig definierbar, werden in der Literatur „Handbücher“ genannt. Auch über die Beatles und andere Größen der 1960er Jahre existiert solche Literatur, die vom Autor absorbiert und ihrer enzyklopädischen Form entkleidet in diesem Buch als Prosa präsentiert wird. Die ständige Wiederholung dieses Musters jedoch wirkt auf die Dauer ermüdend, zumal Henschel auch die Beatles zeitweise aus den Augen verliert, die ja durch den eigenwilligen dramaturgischen Kunstgriff, Lennon aus den Verkehr zu ziehen, zur Untätigkeit verdammt sind. Henschels Fähigkeit, flüssig und mit Witz und Ironie zu schreiben, hätte in diesem Fall eine etwas kompaktere Handlung mit weniger Faktenfülle verdient. Ausdrücklich ausgenommen von dieser Kritik sei jedoch der äußerst charmante und geistreiche Schluss der Geschichte, der allerdings wegen dringlicher Spoilergefahr an dieser Stelle nicht verraten werden darf.
Eines der letzten Bilder des Fotobands Die Beatles – Tag für Tag zeigt John Lennon Ende 1980. Nur kurze Zeit später wird der Musiker auf offener Straße erschossen. Gab es schon während Lennons Leben genügend Gründe, den Beatle und Solo-Künstler John aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus messianisch zu erhöhen, bot sich nach seinem frühen Tod die Gelegenheit zur Mystifizierung erst recht.
Von den drei folgenden Publikationen, die alle dem Ältesten der Fab Four in bewundernder, dabei aber teilweise auch kritischer Weise gewidmet sind, bietet sich Alan Poseners Biografie als Einstieg in hervorragender Weise an. Dabei legt der Autor mit dem in der Rowohlt-Monographien-Reihe erschienenen Band keine neuen Erkenntnisse vor, handelt es sich doch um die nunmehr bereits achte Auflage des 1987 erstmals publizierten Buches. Mit nur 135 Seiten Text beschränkt sich der Autor wohltuend auf eine gut und schnell lesbare Länge, liefert aber mit einem Anhang von über 20 Seiten (u.a. mit detailliert gegliederter Bibliografie und Diskografie) genügend Anregungen, sich mit dem Musiker Lennon auseinanderzusetzen. Klugerweise steht bei Posener wirklich John Lennon im Mittelpunkt und nicht ein Viertel der Beatles, wodurch die Beschreibung von Person und Werk vielschichtiger wird als es die Länge bzw. Kürze des Buches vermuten ließe. Posener wählt für seine Auseinandersetzung mit Lennon den Weg, den Musiker, so oft es geht, selbst zu Wort kommen zu lassen. Als Quellen dienen zum einen Lennons Liedtexte als auch verschiedene Interviews, wie etwa das berühmte Playboy-Interview, das er kurz vor seinem Tod gab. Diese Vorgehensweise stellt sicherlich Lennons eigene Auffassung seiner Person und seiner Rolle in den Beatles in den Vordergrund und führt über diesen Umweg auch bei Posener oftmals zu einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Fab Four. Ob diese Sichtweise gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Legitim ist sie auf jeden Fall, besonders vor dem Hintergrund des Platzangebots der rororo-Monographien. Poseners Stärke liegt in der Analyse von Lennons Liedtexten, und die Parallelen, die er zwischen John Lennon und Bob Dylan zieht, sind immer noch sehr lesenswert. Umso bedauerlicher ist es, dass der Rowohlt-Verlag bei der Entscheidung, den Band neu aufzulegen, eine Überarbeitung nicht mit eingeschlossen hat. Zwar sei ausdrücklich erwähnt, dass zumindest der Anhang aktualisiert wurde und neuere Quellen enthält, aber in einzelnen Punkten wäre die Revision des Textes dringlicher gewesen. So mag schon der erste Satz, dass Liverpool „heute eine sterbende Stadt“ sei (S. 7) Mitte der 1980er Jahre gerechtfertigt gewesen sein. Wer sich die Stadt jedoch 20 Jahre später anschaut, wird glücklicherweise zu anderen Ergebnissen kommen. Ähnlich fragwürdig ist es auch, das Soloschaffen von Paul McCartney als „Sammlung mittelmäßiger Liebeslieder“ (S. 103) oder Brian Epsteins Aussehen als „unübersehbar jüdisch und unübersehbar homosexuell“ (S. 32) zu bezeichnen. Mögen diese Aussagen auch polemisch zugespitzt formuliert und unterschiedlich interpretierbar sein, so gibt es andere Stellen, die eindeutiger zu korrigieren wären: Dass etwa Stuart Sutcliffe an den Spätfolgen einer „Prügelei vor der Litherland Town Hall“ gestorben sein soll (S. 29) wird in der neueren Literatur weitgehend in Frage gestellt. Und Yoko Onos Geburtsdatum in das Jahr 1934 statt 1933 zu verlegen (S. 81), mag in anderen Fällen einer Dame schmeicheln, doch hier ist es schlichtweg falsch. Doch trotz dieser Einwände bleibt die Lektüre des Bandes erhellend und vergnüglich, nicht zuletzt durch Poseners Sprachstil, dem man bisweilen seine Vergangenheit in einer maoistischen Splitterpartei anmerkt (S. 159). Nebenbei bemerkt ist der Rückzug ins Bügerliche, den man bei John Lennon konstatieren kann, interessanterweise auch bei Posener zu finden: Mit dem sinnigen Kürzel „apo“ versehen, arbeitet Posener heute als Kommentarchef der Welt am Sonntag.
Ausgestattet mit dem notwendigen biografischen Rüstzeug kann sich der Leser nun zwei weiteren Publikationen zuwenden, die sich auf sehr viel persönlichere Art und Weise mit dem Menschen und Musiker Lennon auseinandersetzen.
In den Erinnerungen an John Lennon, beim Berliner Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen, hat es Yoko Ono geschafft, über 80 Statements, Aussagen, Texte, Bilder, Gedichte und Fotos von Weggefährten und Bewunderern ihres verstorbenen Mannes zusammenzutragen. Nicht alle Autoren haben Lennon persönlich gekannt, können also auf Begegnungen mit dem Musiker verweisen. Aber auch die Erinnerung an den Einfluss, den Lennon oder die Beatles auf ihr Leben oder die musikalische Entwicklung gemacht haben, sind von großem Interesse. Zu den Autoren zählen Musikerkollegen wie Mick Jagger, Elton John, Peter Gabriel, Ray Charles und Iggy Pop, Schauspieler Dennis Hopper, die Fotografen Harry Goodwin und Annie Leibovitz sowie die Journalisten Jon Wiener und Mark Lewinsohn. Die literarische Form dieser Sammlung kennt der Leser sowohl aus dem wissenschaftlichen Raum (als Festschriften publizierte Einzelbeiträge zum Ruhme einer Person) als auch aus dem privaten Umfeld (Poesiealben oder Sammelwerke zu runden Geburtstagen). Auffällig ist hierbei die Vielfalt der Beiträge. Peter Gabriel benötigt nur 30 Worte, um seine Erinnerungen an Lennon in einem Gedicht niederzuschreiben. Desmond Morris erweist dem Künstler dagegen auf 15 Seiten die Ehre. Annie Leibovitz wiederum erinnert sich mit einer Fotoserie, aus der später das berühmte Rolling-Stone-Cover-Foto, auf dem ein nackter Lennon neben Yoko Ono liegt, ausgewählt wurde. Und sowohl Joan Baez als auch Bono drücken ihre Zuneigung in zwei Zeichnungen aus. Form und Stil der Beiträge sind also uneinheitlich; glücklicherweise, möchte man sagen, wird dadurch doch genau die Absicht der Herausgeberin erreicht, das Buch als persönliches und authentisches Gemeinschaftswerk der Freunde und Bekannten des Künstlers zusammenzustellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Erinnerungen nicht nur die Person näher beleuchten, die Gegenstand der Reminiszenz ist, sondern auch Einblicke in die Gefühlswelt der Urheber zulassen. Dabei kommt es auch zu Beiträgen, die der ursprünglichen Intention der Veröffentlichung etwas entgegenwirken. Peinlich berührt liest man solchermaßen von Donovan, der Teile des kreativen Schaffensprozesses für das Weiße Album für sich reklamiert. Mag dies stimmen oder nicht, sein Auftritt in dieser literarischen Galavorstellung für John Lennon hätte etwas weniger aufdringlich sein können. Interessant sind auch die Beiträge von Chuck Berry und Jerry Lee Lewis. Pflichtbewusst liefern sie ihre Hommage ab, doch die Kürze und floskelhafte Art der Texte lassen Zweifel aufkommen, ob die Stoßrichtung der Huldigung nicht andersrum sein müsste. Schließlich haben diese beiden Künstler bereits Musikgeschichte geschrieben, als Lennon noch den Skiffle auf Kirchenfesten schrammelte. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass die beiden Zitate – wie auch einige weitere Beiträge – nicht aktueller Natur sind, sondern aus der 1982 erschienenen Publikation The Ballad of John and Yoko stammen. Trotzdem ist diese Sammlung allen Lennon-Liebhabern zu empfehlen, besonders auch wegen der beiden Beiträge von Yoko Ono, die zu den eindringlichsten und – so möchte man zumindest meinen – ehrlichsten Statements des Buches gehören.
Auch der im Lutherischen Verlagshaus (Hannover) erschienene Band Ich und John Lennon nähert sich dem Künstler über die Aussagen Dritter. Im Gegensatz aber zu den Erinnerungen an John Lennon, in denen den Autoren anscheinend keine formalen oder stilistischen Grenzen gesetzt waren, hält sich der Herausgeber Martin G. Kunze, ehemaliger Chefredakteur des Evangelischen Kirchenfunks Niedersachsens, überwiegend an die literarische Form des Interviews. Darüber hinaus kommen in Ich und John Lennon nur zehn Personen zu Wort, die zudem aus dem deutschsprachigen Raum kommen, mit Lennon nicht persönlich bekannt waren und vereinzelt – wie etwa der ehemalige BDI-Präsident Olaf Henkel oder Landesbischof Friedrich Weber – keine ausgeprägte Affinität zur Popmusik vorweisen können. Dies bietet andererseits aber auch die Möglichkeit verschiedener Sichtweisen auf den Künstler, die den kurzen, aber auch aufschlussreichen Band lesenswert machen. Den Anfang macht der Musiker Heinz Rudolf Kunze, der sich gewohnt prägnant auszudrücken vermag, durch seine oftmals ungerechtfertigte Polemik aber bisweilen überheblich wirkt. Michael Jackson als „Wicht“ (S. 25) und Paul McCartney als „Zuckerbäcker“ (S. 17) zu bezeichnen, zeugt nicht von großer Fachkenntnis, zumindest nicht von ausgeglichener Meinungsbildung. Immerhin aber nennt Heinz Rudolf Kunze Teile von Lennons Solowerken „unerträgliche Flachwichserei“ (S. 20), womit ihm zumindest keine Parteinahme vorzuwerfen ist. Die Erinnerungen von Reinhard Schmidt-Rost dagegen, seines Zeichens Pfarrer und Theologie-Professor, sind im Vergleich zu Kunzes Ausführungen sprachlich ausgefeilt, auch wenn sie keine neuen Erkenntnisse über die Beatles oder John Lennon vermitteln. Interessanterweise zeigen sie aber, dass es in den 1960er Jahren auch Gegenwelten zu den Liverpoolern gegeben hat, die in Gestalt von Bach, Beethoven und Bruckner nur die Anfangsbuchstaben mit der Popgruppe gemein haben. Der aussagekräftigste Beitrag zu dem Band stammt von dem schon erwähnten Landesbischof Weber, der zusammen mit dem Pfarrer Dietmar Schmidt-Pultke – wie es im Untertitel von „Als ob ich einen Verstärker für meine Seele hatte“ (S. 43) heißt – „Vermutungen über die Popularität John Lennons“ anstellt. Die beiden Autoren kommen zu bemerkenswerten Thesen, etwa wenn sie Parallelen zu den biblischen Psalmen aufstellen und in der Textauslegung vor allem den Schmerzmoment betonen, der sich seit den Versen für den Song „Help“ in Lennons Lyrik manifestiert hat. Als kurzes Leitmotiv zieht der Herausgeber Martin G. Kunze Lennons bekannte Äußerung über die Popularität der Beatles und Jesus Christus durch den Band, doch sind Kunze selbst und auch die Autoren erfreulich zurückhaltend in der Beurteilung dieser provokanten Aussage. Dankenswerterweise wird jedoch auch nicht versucht, John Lennon für eigene Zwecke zu vereinnahmen, weswegen der Band allen Lennon-Fans ans Herz gelegt werden kann.
Etwas außerhalb des literarischen Beatles-Kosmos’ liegen die beim Hamburger Murmann Verlag erschienenen Erinnerungen von Geoffrey Ellis, Ein Leben im Popmanagement. Zum einen handelt es sich beim dem Buch nicht um eine Biografie der Fab Four, auch wenn deren Köpfe auf dem Cover abgebildet sind, sondern um eine Autobiografie eben jenes Herrn Ellis, der Mitte der 1960er Jahre in der Management-Firma von Brian Epstein angestellt wurde. Zum anderen ist der Autor erklärter Klassik-Fan und steht der Popmusik etwas distanziert gegenüber. Gerade aus letzterem Grund aber sind die Ausführungen des studierten Juristen, gebürtigen Liverpoolers und Jugendfreunds von Epstein von einer wohltuenden Objektivität und erstarren nicht ehrfurchtsvoll vor dem Werk der Beatles. Vielmehr ist Ellis in der Lage, die Band und deren Musik in einem lockeren Konversationsstil und – im besten Sinne des Wortes – leidenschaftslos zu betrachten. Denn nach Abzug aller künstlerischen Genietaten, die es ohne Frage gab, waren und sind die Beatles ein Wirtschaftsunternehmen, deren Angestellte nicht nur Ruhm, sondern auch Gewinn vermehren sollten. So sind es gerade diese Einblicke in die ökonomische Welt der Musik, die auch dem Beatles-Liebhaber neue Erkenntnisse verschaffen können. Gleichzeitig amüsant und erhellend ist es etwas, wie der Autor über Details aus Vertragsvorbereitungen plaudert, die John Lennon und Paul McCartney höhere Tantiemen an ihren Liedern sichern sollten. Doch kurz vor der Vertragsunterzeichnung verzögerte sich der Vorgang um einige Minuten, und es war Paul McCartney, dem nicht selten hemmungsloses Gewinnstreben vorgeworfen wird, der die Geduld verlor und in seinen Urlaub verschwand. Nur durch hartnäckige Recherche konnte der Beatle gefunden und mit der Unterschrift unter den Vertrag zu seinem Glück gezwungen werden. Allerdings sind solche Details eher selten, womit das Buch leider nicht zur Pflichtlektüre angehender Betriebs- oder Rechtswissenschaftler in der Unterhaltungsindustrie werden wird. Geoffrey Ellis mag ein hervorragender Jurist sein (wofür auch die Tatsache spricht, dass er nach der Beatles-Ära auch Elton John zu seinen Klienten zählte), als Literat fehlt ihm das Talent, die aneinandergereihten Anekdoten aus seinem Leben mit einer straffen Handlung und überzeugenden Dramaturgie zu verbinden. Letztendlich sind die Memoiren Ellis’ – und das ist natürlich schon interessant genug – eine Erinnerung an seinen Freund Brian Epstein, der weitaus öfter vorkommt als die Fab Four selbst. Dazu tragen auch die niedergeschriebenen Erinnerungen einer von Epsteins Assistentinnen bei, die in dem Buch auf mehreren Seiten wiedergegeben werden.

Delius, Friedrich Christian: Die Minute mit Paul McCartney. Memo-Arien. Berlin: Transit, 2005. – 94 S.
ISBN 3-88747-204-7 : € 12,80 (geb.)
Henschel, Gerhard: Der dreizehnte Beatle. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2005. – 206 S.
ISBN 3-455-03172-2 : € 16,95 (geb.)
Posener, Alan: John Lennon. 8. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 200. 59 S.: zahlr. schwarz-weiß-Abb. (rowohlts monographien ; 50363)
ISBN 3-499-50363-8 : € 7,50 (kt.)
Erinnerungen an John Lennon / Hrsg. von Yoko Ono. – Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2005. – 275 S.: zahlr. schwarz-weiß-Abb. u. Grafiken
ISBN 3-89602-679-8 : 19,90 (geb.)
Ich und John Lennon / Hrsg. von Martin-G. Kunze. – Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 2005. – 139 S.: Autorenporträts
ISBN 3-7859-0940-3 : € 14,90 (kt.)
Ellis, Geoffrey: Ein Leben im Popmanagement. The Beatles, Brian Epstein & Elton John. – Hamburg: Murmann, 2005. – 255 S.: schwarz-weiß-Abb.
ISBN 3-938017-28-7 : € 19,90 (geb.)

Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 97-102

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