Gisela Nauck: Risiko des kühnen Experiments. Der Rundfunk als Impulsgeber und Mäzen

Nauck, Gisela: Risiko des kühnen Experiments. Der Rundfunk als Impulsgeber und Mäzen. – Saarbrücken: PFAU Verlag, 2004. – 219 S.: Ill. – (SWR Schriftenreihe: Grundlagen ; 7)
ISBN 3-89727-263-6 : € 25,00

Beide sind Kinder des 20. Jahrhunderts, deren Wege sich immer wieder kreuzten, die sich wechselseitig beeinflussten und voneinander profitierten: die Neue Musik und der Rundfunk, der die Entwicklung der musikalischen Avantgarde maßgeblich gefördert hat. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Südwestrundfunk (SWF) Baden-Baden, mit dessen Name sich das älteste und bedeutendste Festival für Neue Musik verbindet, die Donaueschinger Musiktage.
Der Briefwechsel zu den Donaueschinger Musiktagen von 1949-1993, der im Historischen Archiv des SWR lagert, wurde nun erstmals gesichtet und ausgewertet. In den Mittelpunkt rückte die Autorin Gisela Nauck die Aufbau- und Konsolidierungsphase von 1949–1970, als Heinrich Strobel, ein engagierter Verfechter der Neuen Musik, die Musikabteilung des SWR leitete. In dieser Zeit wurden die Weichen für die Förderung Neuer Musik gestellt und „das zeitgenössische Musikschaffen zu einem zentralen Arbeitspunkt entwickelt“ (S. 12). Strobel war davon überzeugt, dass der Rundfunk die „selbstverständliche Pflicht hat, der Musik dieser Zeit in all ihren Äußerungen nachzuspüren“ (S.44) und „laut, deutlich, bewusst und mit Überzeugung für das Neue in der Musik einzutreten“ (S. 40).
In ihrer komprimierten, informativen Auswertung stellt die Autorin die sozialen, politischen und institutionellen Voraussetzungen einer solchen Förderung dar, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unauflöslich mit dem Aufbau eines demokratischen Staates und eines föderalen, staatlich unabhängigen Rundfunks verbunden waren. In dem von Frankreich besetzten Südwesten Deutschlands sollte dieser ein Medium für differenzierte Minderheiten sein. Damit war der Grundstein für ein bisher noch nie da gewesenes Mäzenatentum für Neue Musik gelegt, von dem z. B. die jungen Nachkriegskomponisten Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio oder Pierre Boulez profitierten. Jedes Festival, jede Konzertreihe mit Neuer Musik entstand unter Beteiligung eines Rundfunksenders.
Für Heinrich Strobel, den Hauptabteilungsleiter für Musik beim SWR, war keine andere Institution so dafür prädestiniert, das zeitgenössische Musikschaffen zu fördern, wie der Rundfunk. Die Donaueschinger Musiktage, deren künstlerischer Leiter er 1951 wurde, waren in dieser Hinsicht sein wichtigstes Instrument. Indem der SWR jährlich vier bis zehn Auftragskompositionen vergab und finanzierte, sowie sein Sinfonieorchester als wichtigsten Interpreten zur Verfügung stellte, entwickelte sich Donaueschingen schnell zu einem auch international renommierten Uraufführungsfestival. So entstand ein durch seine Bindung an eine öffentlichrechtliche Einrichtung institutionalisiertes Mäzenatentum.
Auch außerhalb von Donaueschingen schuf der Sender mit seinen Landesstudios Foren für Neue Musik, die das experimentelle Potenzial dieser Musikform noch konsequenter und facettenreicher darbieten konnten, als es in Donaueschingen möglich war. Denn Donaueschingen – das stellt die Autorin in ihrem Überblick anhand vieler Zitate sowie zahlreicher Abbildungen von Briefen anschaulich dar – war im untersuchten Zeitraum ein Festival, das „beinahe so viele Krisenjahre wie Musikfeste“ (S. 79) verzeichnete. Die Gründe waren künstlerischer, ästhetischer wie auch politischer Natur, und die z.T. hart geführten Kämpfe innerhalb des zuständigen „Viererrats“ entzündeten sich an der Programmgestaltung ebenso wie an den unzulänglichen Räumlichkeiten, an der Einengung auf ein reines Orchesterfestival ebenso wie an den Handicaps einer rundfunkgerechten Produktion.
Im Gegensatz dazu stehen die ständigen Innovationsbemühungen Strobels und sein Anspruch, immer wieder zu einem „vielseitigen Bild der allerjüngsten Produktionen“ (S. 112) zu gelangen. Deren musikalische Umsetzung stieß bei den Orchestermitgliedern allerdings mit der Zeit auf erheblichen Widerstand. Sie protestierten gegen unkonventionelle Spieltechniken oder die Koppelung von Orchesterklang und Tonband, bis ein neuer Tarifvertrag der Experimentierfreude der Komponisten Grenzen zu setzen versuchte. Doch der Kämpfer und Taktiker Strobel fand auch für diese Probleme kreative Lösungen, indem er z.B. Gastensembles einlud und so der experimentelle Charakter der Donaueschinger Musiktage nicht verloren ging.
Der Persönlichkeit Heinrich Strobels hat Gisela Nauck ein eigenes, umfangreiches Kapitel gewidmet. Keiner hat das künstlerische Profil der Musiktage so geprägt wie er, der Hauptabteilungsleiter Musik beim SWR und künstlerischer Leiter des Festivals in Personalunion war.
Manche Informationen aus den vorausgegangenen Kapiteln wiederholen sich hier. Doch indem die Autorin sie in einen größeren Zusammenhang stellt, werden Entwicklungen und Entscheidungen transparenter. So mag aus heutiger Sicht Strobels Akzentuierung der dodekafon orientierten und seriellen Avantgarde (mit ihren Hauptvertretern Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono) sowie die regelmäßige Berücksichtigung der „Väter der Moderne“, Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg, einseitig erscheinen. Doch macht der Donaueschinger Briefwechsel deutlich, wie wichtig es nach dem – auch kulturellen – Desaster des Zweiten Weltkriegs war, die damals verfemten Komponisten der musikalischen Moderne wieder in Deutschland aufzuführen.
Sehr deutlich arbeitet Gisela Nauck auch die beeindruckenden Bemühungen Strobels heraus, das Programm des Festivals kontinuierlich zu erneuern, um dem Entwicklungsstand der zeitgenössischen Musik gerecht zu werden. Film, Theater, Pop-Art, nichts blieb unversucht, auch wenn manches scheiterte oder in der Planungsphase stecken blieb. Mit „Musik im Raum“ etablierte Heinrich Strobel nach dem Ende des seriellen Komponierens schließlich neue Möglichkeiten innovativen Komponierens – ein Konzept, das auch in den folgenden Jahrzehnten ein Merkmal der Donaueschinger Musiktage blieb.

Friedegard Hürter
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 112f.

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