Ekkehard Jost: Jazzgeschichten aus Europa [Rebecca Berg]

Jost, Ekkehard: Jazzgeschichten aus Europa. – Hofheim: Wolke, 2012. – 334 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-936000-96-2 : € 24,80 (geb.)

Die europäische Jazzgeschichte in 18 Kapiteln auf rund 330 Seiten? Mitnichten! Und deshalb nannte der Autor Ekkehard Jost seine neueste Publikation bewusst und nach allen Seiten hin offen: Jazzgeschichten aus Europa. In seiner gleichnamigen Sendereihe im WDR erzählte der anerkannte Musikwissenschaftler und ausübende Jazzmusiker von 2008 bis 2012 anekdotenlike von Phänomenen rund um den Jazz, seinen Musikern und seinen stilistischen Entwicklungen. Doch nicht nur der Titel der Radiosendung stand für das Buch Pate. Auch thematisch gibt es Parallelen. Wie es sich für ordentliche Geschichten gehört, stehen inhaltliche Akzente im Vordergrund – ohne Rücksicht auf ein „in der Jazzgeschichtsschreibung möglicherweise bestehendes Einverständnis darüber, was wichtig und zugleich interessant ist und was nicht“ (S. 14). Kurzum: Jost pickt sich einfach das heraus, was er für erzählenswert hält. Trotzdem sind die Geschichten nicht frei erfunden, sondern basieren auf reichlich Quellenmaterialen. Einige von ihnen spiegeln sich in den zahlreichen Schwarzweißdokumenten zwischen den Kapiteln wider, die hauptsächlich Fotos von Musikern der jeweiligen Ära zeigen und optisch das Geschriebene wunderbar unterstreichen.
Besonderes Augenmerk legt der Autor dabei auf Ereignisse, in denen etwas Außerordentliches passierte, wie zum Beispiel in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen der Jazz über den großen Teich in die einzelnen Länder Europas schwappte. Dieses Ereignis gab den Anstoß, dass sich eine Musikform wie der Jazz in verschiedenen europäischen Ländern ausbreiten konnte. Denn bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eiferten die Europäer noch ihren amerikanischen Vorbildern nach. Jedem Land oder jeder Region, darunter Frankreich, Großbritannien, Skandinavien, Deutschland etc., wird eine vergnügliche, aber auch mit Fakten gespickte Geschichte gewidmet. Vor allem in Frankreich entwickelte sich schon früh eine aparte Jazz-Szene aus einheimischen und ausländischen Musikern. Selbst unter totalitären Systemen, wie dem Nazi-Regime oder dem sowjetischen Stalinismus, konnte die Jazzmusik überleben. Ende des zweiten Weltkrieges ergriff eine regelrechte Jazzeuphorie ganz Europa, die eine Abnabelung von den Vorbildern aus den USA einläutete. Gerade dem Free Jazz wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Einerseits, weil diese Improvisationsmusik natürlich bedeutsam für die gesamte Jazzhistorie ist, andererseits aber vielleicht auch, weil Ekkehard Jost seine Habilitation zum Thema Free Jazz verfasste, die unter dem Titel Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre zum Standardwerk geworden ist.
Auf den letzten Seiten des Buches werden die modernen Strömungen sowie die Festival- und Clubszene, vor allem in Deutschland etwas genauer unter die Lupe genommen. Ob die leicht ironisch klingenden Betitelungen „unheilige Allianzen“ und „Etikettenschwindel“ für die in den 1990ern aufkommenden Strömungen, wie dem Acid Jaz oder dem Techno Jazz, ernst gemeint sind? Auf der beiliegenden CD, die aufschlussreiche 28 Hör-Exempel von 1919 bis 1948 enthalten, sind zwar sicherlich historische Schätze zu entdecken, Beispiele aus neuerer Zeit fehlen jedoch. Aber die gibt es heutzutage ja glücklicherweise überall auf Tonträgern oder online zu erwerben. Soviel ist klar: Der europäische Jazz hat sich seinen Weg erfolgreich gebahnt. Deshalb fragt das letzte Kapitel von „Jazzgeschichten aus Europa“ nicht zu unrecht: Quo vadis? Wie geht es weiter mit dem europäischen Jazz? Eine berechtigte Frage, der hoffentlich einmal, wie von Jost angedeutet, „neue“ Jazzgeschichten aus Europa folgen mögen.

Rebecca Berg
Frankfurt am Main, 16.08.2012

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