Ralph Roger Glöckler: Mr. Ives und die Vettern vierten Grades [Stefanie Steiner-Grage]

Glöckler, Ralph Roger: Mr. Ives und die Vettern vierten Grades. Roman.  – Berlin: Elfenbein, 2012. – 286 S.
ISBN 978-3-941184-15-2 : € 19,00 (geb.)

Fiktive Biographien scheinen eigentlich ein Widerspruch in sich – entweder Fiktion oder Fakten! Ralph Roger Glöckler unternimmt dennoch das Wagnis, das Leben von Charles Ives und Henry Cowell sowie ihrer Ehefrauen ausgehend von Briefdokumenten spekulativ nachzuzeichnen. Und er wählt hierfür eine ungewöhnliche Präsentationsform: einen Roman in vier Briefen, die nie geschrieben wurden…
Fünf Jahre lang hat Glöckler in Archiven und Bibliotheken recherchiert, um den möglichen Gedankengängen seiner Protagonisten nachzuspüren. Natürlich sind die so entstandenen “Briefe” von tatsächlich existierenden Dokumenten nur inspiriert und zum größten Teil der Phantasie des Autors entsprungen – und dennoch: Trotz aller Spekulation ist die Geschichte plausibel, so könnte es gewesen sein. Glöckler beschreibt sein Vorgehen in einem ausführlichen Nachwort: Er habe “verstorbene öffentliche Figuren in meine eigenen” verwandeln wollen, und da “jede einzelne Person aus ihrer Perspektive erzählt, handelt es sich bei diesem Buch um die Bearbeitung eines Themas in vier Variationen” (S. 285). Die vier Protagonisten sind die Ehepaare Charles und Harmony Twitchell Ives sowie Henry und Sidney Robertson Cowell. Die zugrundegelegten realen Briefe beginnen ein Eigenleben zu führen, denn Glöckler schreibt alles auf, was dem Schreiber vor und nach der eigentlichen Niederschrift im Kopf herumgehen könnte. Nur weniges hiervon wandert erfahrungsgemäß tatsächlich zu Papier, der Rest wird sozusagen zur unbeschriebenen Projektionsfläche für Glöcklers Schilderung biographisch wichtiger Stationen.
Die fiktiven Ansprechpartner der vier inneren Monologe sind im Fall von Mrs. Ives eine Freundin, bei Charles Ives dessen Vater; Henry Cowell richtet seine Gedanken an Charles Ives und seine Frau Sidney befindet sich gegenüber Harmony Ives in einem permanenten Rechtfertigungszwang. Bei Charles Ives’ Brief handelt es sich zwar laut Autor um eine “Variation des Briefes, den Ives am 18. September 1941 an Henry Cowell geschrieben hat” (S. 283), doch geraten die hinzugedichteten Gedanken zur wehmütigen Auseinandersetzung mit einem schier übermächtigen, zu früh verlorenen Vater-Vorbild. Sidney Cowell verdankt ihre Ausgestaltung »der Lektüre der Transkriptionen der Tonbandaufnahmen von Sidney Robertson Cowell (1903–1999), die sich im Nachlass von Henry Cowell in der ‚New York Public Library for the Performing Arts’ befinden. Vieles, was sie dort andeutet, wurde vom Autor in diesem Buch verarbeitet, dabei weitergedacht und variiert« (S. 284). Der Vorteil der ungewöhnlichen Gestaltung wird rasch klar: Die gleiche biographische Situation kann aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet werden, nicht eine Wahrheit wird beschrieben, sondern verschiedene Versionen in all ihrer Subjektivität. Natürlich ist auch der Skandal um Henry Cowells Verhaftung wegen Homosexualität und die von Prüderie und bigotten Moralvorstellungen geprägte Reaktion seiner Umwelt immer wieder Thema innerhalb des verwickelten Gedanken- und Beziehungsgeflechts.
Konstruiert ist all das in mitunter lang verschachtelten Satzgebilden, mit Rückerinnerungen und Reminiszenzen an vergangene Ereignisse, die dem Leser manchmal Vor- und Zurückspringen abverlangen. Doch die Mühe lohnt sich, frei nach dem Motto “Se non è vero, è ben trovato”. Alles in allem ein Lesevergnügen, über das sich zwar der an reinen Fakten interessierte Spezialist sicherlich an manchen Stellen mokieren kann, an dem aber jeder, der spannende, ungewöhnliche Geschichten liebt, seine Freude haben wird. Der Titel des Buches bezieht sich übrigens auf einen Vers von Walt Whitman: “Anpassung ist für die Vettern vierten Grades.”

Stefanie Steiner-Grage
Karlsruhe, 16.08.2012

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