Lea Mendelssohn Bartholdy: Ewig die deine. Briefe an Henriette von Pereia-Arnstein [Peter Sühring]

Lea Mendelssohn Bartholdy: Ewig die deine. Briefe an Henriette von Pereia-Arnstein / Hrsg. von Wolfgang Dinglinger und Rudolf Elvers. Bd. 1: Briefe, Bd. 2: Kommentare und Verzeichnisse – Hannover: Wehrhahn, 2010. – 841 S.
ISBN 978-3-86525-133-6 : € 49,80 (geb.)

Wer weiß, wie bedeutsam die Briefe von Felix und Fanny Mendelssohn sind, um einen Einblick in das Innenleben der künstlerischen Produktivität des Geschwisterpaares zu gewinnen, wird nun glücklich sein, auch die Mutter dieser Briefkultur in Gestalt der Briefe, die beider leibliche Mutter an eine Wiener Cousine schrieb, in Gänze zu besitzen. Der Ruhm ihrer Briefe war ihnen wie ein Gerücht vorausgeeilt. Nun, ihrer habhaft, kann man das ganze Ausmaß dieses Schatzes erkennen. Sein Erwerb durch das Mendelssohn-Archiv der Berliner Staatsbibliothek und besonders seine relativ schnelle und umfassend kommentierte Veröffentlichung können nachträglich nicht genug gelobt werden. Es dürfte sich hierbei um eine der letzten Großtaten des inzwischen verstorbenen Doyens der Mendelssohn-Sammlung und -Forschung, Rudolf Elvers (1924–2011), handeln. Vereinzelt kannte man schon pointierte Äußerungen Lea Mendelssohn Bartholdys aus ihren Briefen – in teilweise verderbter Gestalt. Nun haben wir eine philologisch getreue und bestens kommentierte Ausgabe vorliegen, die positive Ahnungen bestätigt, was den Charakter und die prägende Rolle dieser Frau in der Familie Mendelssohn im Übergang (und Zwiespalt) zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrifft.
Lea Mendelssohn Bartholdy initiierte und begleitete nicht nur die meisten Schritte der musikalischen und sonstigen Ausbildung ihrer Kinder, sie hatte auch einen wachen, klugen, kritischen und erstaunlich sachverständigen Blick auf die Ergebnisse ihrer Initiativen und konnte sich an deren gewonnener Eigendynamik, auch da, wo sie ihr fast über den Kopf wuchs, erfreuen. Sie fungiert hier als erste und auch sachlich zuverlässige Rezensentin von privaten Aufführungen der Werke ihrer Kinder, besonders auch von Felixens Jugendopern. Aber sie kommentiert nicht nur stolz-schwärmerisch die Erfolge ihrer Kinder und Enkel, sondern gibt zu vielen Ereignissen des kulturellen und politischen Lebens ihrer Zeit urteilskräftige Kommentare ab. Hin- und hergerissen zwischen ihren häuslichen Pflichten und ihrer literarischen und musikalischen Neugier, findet sie erstaunlich viel Zeit und Kraft, sich mit den neuesten Tendenzen des Zeitgeistes auseinanderzusetzen. Selten scheint beispielsweise der zum Terrorismus neigende Charakter der Burschenschaften als einer quasi religiösen Sekte anlässlich der Ermordung Kotzebues damals schon so klar erkannt worden zu sein wie in ihren Briefen. Das Berliner Miljöh kommt nicht gut weg, die sie und ihre Familie umzingelnde Judenfeindlichkeit weiß sie richtig einzuschätzen. Auch sonst erfährt man viel über das Berlin jener Zeit und seine Umgebung, schon damals wurde vor dem Oberbaum, jenseits des Schlesischen Tores, in der Spree gebadet – auch von den Mendelssohns.
Eine Unzahl damals und teilweise noch heute berühmter Gestalten werden hier aus den unmittelbar authentischen ersten und späteren Eindrücken geschildert: die Euphorie über den Lehrer Carl Friedrich Zelter, die ambivalente Lektüre der Erstausgaben E.T.A. Hoffmanns, die schauerliche Wirkung der Berliner Erstaufführungen Meyerbeers – alles wirkt hier ganz frisch und wird auch durch spätere Relativierungen nicht eingetrübt. Es ist das nicht genug zu rühmende Verdienst von Wolfgang Dinglinger und Rudolf Elvers, diesen Briefen die unentbehrliche und akribische Einkleidung durch Stellenkommentar und aufschließende Register gegeben zu haben. Liest man die Briefe und dann den Kommentar, so bleibt buchstäblich keine der aufgetauchten und heute noch beantwortbaren Fragen unbeantwortet.

Peter Sühring
Berlin 19.03.2012

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