Rio Reiser Liederbuch / Hrsg. von Lutz Kerschowski [u.a.]

Rio Reiser Liederbuch / Hrsg. von Lutz Kerschowski [u.a.]. – Berlin: Bosworth, 2010. –452 S.: 22 s/w- u. 84 farb. Abb.
ISBN 978-3-86543-303-9 : € 49,95 (Pb.)

Als äußerlich schwergewichtiges und telefonbuchartiges Werk (30,5 × 23,1 × 2,6 cm groß) präsentiert sich das Liederbuch eines Sängers und Komponisten, der im Jahr 1996 im frühen Alter von 46 Jahren starb.
Rio Reiser war Mitbegründer und Mittelpunkt der Berliner Polit-Rockband Ton Steine Scherben. Als charismatischer Sänger und Agitator schrieb er Texte, deren Botschaften auf Häuserwände gemalt wurden. Die Musik der „Scherben“ war bis Mitte der 1980er-Jahre der obligatorische Soundtrack einer progressiven linken Subkultur und auf jeder Demo zu hören. Wie schon Ernst Busch, wollte Rio Volkslieder für die Arbeiterklasse schreiben und bekundete dieses naive aber ehrliche Anliegen vor der Kamera in frühen Interviews.
Weder der Underground noch die Arbeiterklasse wollten den „Scherben“ für ihr Wirken und Schaffen eine erträgliche Existenzgrundlage sichern. So musste durch Erlöse im Schlagermilieu ein angehäufter Schuldenberg abgetragen werden.
Das vorliegende, opulent gestaltete Buch trägt auf der ersten Seite konsequent den von Rio handgemalten Titel Schlagertextheft von Rio Reiser.
„Wir wollten kein Best-of Liederbuch, sondern komplett alle Songs der sechs CDs, die zwischen 1986 und 1996 veröffentlicht wurden, plus die dazugehörigen B-Seiten und Raritäten“ schreiben die Herausgeber, deren Identität sich nur erraten lässt. Weiterhin werden auch die Songs posthum veröffentlichter CDs geboten. Die Noten sind eingebettet in eine Vielzahl gezeichneter Skizzen, reproduzierter Manuskripte und Fotos mit privatem Charakter.
Lutz Kerschowski, der für die Transkriptionen verantwortlich zeichnet und im Vorwort im Pluralis majestatis schreibt, bedankt sich nachstehend ausdrücklich bei „Rios Mutter Erika Möbius“. Diese ist möglicherweise sehr zufrieden, dass sich kein einziges Lied aus dem reichhaltigen Werk der Ton Steine Scherben im Buch findet, und dass ihr Sohn hier von jeglichem Zeit- und Politkontext entkleidet als weich gespülter sanfter Blödelbarde mit Satire-Ambitionen (König von Deutschland) zartpoetisch besaitet porträtiert ist.
Die Zeit, als Rio Reiser von Geldnöten geplagt z. B. „auf Wunsch von Gitte Haenning mehrere Songs für sie schrieb und aufnahm“ (S. 138), oder sein Komponieren für einen Schimanski-Tatort-Fernsehkrimi ist jedoch nicht jene ruhmreiche Werkphase, mit der er bekannt wurde und in der es ihm gelang, die deutschsprachige Rockmusik sowohl zu etablieren als auch zu revolutionieren. Das Rio Reiser Liederbuch ist somit unvollständig, auch wenn Umfang und Gewicht bei erster Betrachtung einen anderen Eindruck vermitteln, es repräsentiert sozusagen nur die B-Seite von Rio.
Wer diese mag, wird sich am vorliegenden aufwendigen Schlagerbuch, das mit dem Deutschen Musikeditionspreis 2011 (in der Kategorie 6 – Ausgaben für Popularmusik) ausgezeichnet wurde, erfreuen. Wer Rios „A-Seite“ lieber mag (das „A“ von einem Kreis umrandet), dem ist vom Kauf abzuraten.

Manfred Miersch
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 86f.

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