Margret Jestremski: Hugo-Wolf-Werkverzeichnis (HWW). Thematisch-chronologisches Verzeichnis der musikalischen Werke Hugo Wolfs [Ulrich Konrad]

Jestremski, Margret: Hugo-Wolf-Werkverzeichnis (HWW). Thematisch-chronologisches Verzeichnis der musikalischen Werke Hugo Wolfs. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter, 2011. – 698 S.: Abb.; Notenincipits (Catalogus Musicus ; XIX)
ISBN 978-3-7618-1989-0 : € 198,00 (geb.)

Die Geschichte der Wissenschaften geht manch krumme Wege, und immer wieder gibt es unerwartete Abzweigungen. Vor vierzig Jahren hätten nur wenige Musikwissenschaftler eine Lanze für das Werkverzeichnis als zentrale Aufgabe des Fachs gebrochen, geschweige denn, dass sie dem Genre eine nennenswerte Zukunft prophezeit hätten. Derartige Kataloge zu erarbeiten galt eher als Beschäftigung für fleißige Kärrner denn für ambitionierte Forscher. Doch solche immer auch von intellektuellen Moden beeinflussten Einschätzungen werden am Ende meist von der Wirklichkeit überholt. Das gilt im vorliegenden Fall nicht anders. Denn angefangen beim Verzeichnis der Werke von Johannes Brahms (McCorkle, 1984) über diejenigen etwa von Robert Schumann (McCorkle, 2003), Felix Mendelssohn Bartholdy (Wehner, 2009) oder Max Reger (Popp, 2010) bis hin zu den derzeit in Arbeit oder Planung befindlichen Beethoven-, Mozart- oder Schönberg-Werkkatalogen – womit nur einige genannt sind – drängt sich dem Betrachter beinahe der Eindruck eines Booms auf. Dieser Zweig der Musikbibliographie steht derzeit in voller Blüte, wovon auch der jüngst erschienene Tagungsbericht Inventar und Werkverzeichnis (Freiburg 2011) zeugt. Mehr noch: Was einstmals konzeptionell simpel erschien – der Werkkatalog als Nachweisort elementarer Entstehungs- und Überlieferungsdaten –, ist in jüngerer Zeit zu einem reflektierten, systematisch durchstrukturierten, auch rezeptionsgeschichtlich weit ausgreifenden, insgesamt philologisch wie historiographisch anspruchsvollem Forschungsinstrument fortentwickelt worden. Als Folge dieses Trends entstehen Werkverzeichnisse immer häufiger nicht mehr als opera summa einzelner Wissenschaftler, sondern als Produkte von Forscherteams, oft mit dem Hintergrund eines Editionsinstituts. Umso bemerkenswerter erscheint es dann, wenn auf dem Titelblatt eines neuen Werkkatalogs der Name nur einer Autorin steht.
Margret Jestremski hat sich 2002 mit einer grundlegenden Untersuchung zur Arbeitsweise des Komponisten Hugo Wolf (1860–1903) einen guten Namen gemacht. Während eines dreijährigen Forschungsprojekts trieb sie dann Quellenrecherchen voran, die an die bereits geleistete Erfassung der Skizzen und Fragmente anknüpften, aber längst nicht abgeschlossen werden konnten. Auch im Jubiläumsjahr 2010 war es noch nicht soweit – ein erneuter Beleg für die alte Erfahrung, dass Bücher ihre eigenen Schicksale haben. Dafür liegt jetzt ein Hugo-Wolf-Werkverzeichnis vor, das – es sei vorweg gesagt – der inzwischen schon längeren Kette vergleichbarer Publikationen zu anderen Komponisten eine glänzende Perle hinzufügt und die auf diesem Feld erreichten hohen Standards nachdrücklich bestätigt.
Die Autorin hat ihren Katalog nach der Chronologie der Werkentstehung angelegt, folgt damit einem bekanntlich so lange besonders riskanten Ordnungsprinzip, bis nicht die Überlieferung an Kompositionen restlos festgestellt ist und alle Datierungsfragen zweifelsfrei beantwortet sind. Wer bei diesen beiden Punkten den Maßstab 100%iger Gewissheit anlegen wollte, würde einer Chimäre nachhängen, was kein vernünftiger Mensch tut. Im Falle Wolfs ermöglicht aber die dichte Dokumentation sowohl an primären Kompositionsquellen als auch an sekundären Zeugnissen tatsächlich die chronologische Anlage, und das Ergebnis zwingt nur gelegentlich zur Akzeptanz von Datierungen im Schwankungsbereich mehrerer Wochen. Bei der weit überwiegenden Zahl der Werke Wolfs lässt sich der Entstehungstag oder -zeitraum aufgrund eigenhändiger Vermerke des Komponisten oder mittels Schriftbefund problemlos fixieren. Angesichts der engmaschigen Datenfolge und deren Genauigkeit darf nach menschlichem Ermessen auch ausgeschlossen werden, dass künftig bislang noch völlig unbekannte Kompositionen auftauchen. Somit stellt Frau Jestremskis Verzeichnis den liber scriptus dar, mit dem der Komponist am Jüngsten Tag guten Mutes vor Gericht Rechenschaft über seine gesamte Schaffensbiographie ablegen kann.
Bis dahin hält das Verzeichnis die schier unerschöpfliche Fülle seiner Informationen für den irdischen Nutzer bereit. Der Aufbau des Katalogs folgt im Ganzen wie in den Teilen der einzelnen Werkartikel einer klaren und sinnfälligen Konzeption. In der Einleitung (S. VII–XXXIV) schildert die Autorin u.a. die Stationen der Erschließung von Wolfs Œuvre und gibt Hinweise zu Entstehung und Verbreitung der Werke. Dem eigentlichen Verzeichnis der datierbaren Kompositionen und kompositorischen Fragmente (S. 1–598) ist ein gut vierzigseitiger Anhang beigefügt, in dem Skizzenbücher, Einzelskizzen, Bearbeitungen und Abschriften von Werken anderer Komponisten sowie Wolf fälschlich zugeschriebene Kompositionen erschlossen sind. Große Sorgfalt hat Frau Jestremski auch beim siebenteiligen Register walten lassen, durch das die Orientierung in den Datengebirgen maßgeblich erleichtert wird.
Jeden Werkartikel eröffnet ein Datenkopf mit dem Titel (nach Möglichkeit in Wolfs eigener Formulierung gemäß der jeweils überlieferten Fassung letzter Hand); dazu kommen Angaben zu Besetzung, zu Status (z. B. Fragment), Textdichter, Publikation in der Kritischen Wolf-Gesamtausgabe und Datierung. Hinreichend ausführliche Notenincipits (in der Regel auf zwei oder drei Systemen) sind nach authentischen Quellen, soweit vorhanden, eingerichtet. Ausführlich stellt Frau Jestremski die Entstehungs- und Veröffentlichungs-, einschließlich der Aufführungsgeschichte dar. Basis dafür liefert die in bewunderungswürdiger Gründlichkeit ausgearbeitete bibliographische und philologische Beschreibung ausnahmslos aller zu eruierender textlichen und musikalischen Quellen; letztere sind von den ersten Anfängen (z. B. Skizzennotaten) bis in die letzten Winkel der Druckhistorie erfasst. Auch unter Zwang lassen sich keine sinnvollen Auskunftsbedürfnisse ersinnen, für die der Katalog keine Antworten bereithielte.
Dass nach einem geflügelten Wort Otto Erich Deutschs Publikationen wie die vorliegende am besten erst in der zweiten Auflage herauskommen sollten, weil ihre Korrekturbedürftigkeit beim Ersterscheinen rasch evident würde, dieses Dictum kann der Rezensent am Ende seiner intensiven Durchsicht von Margret Jestremskis HWW nicht bestätigen. Was eine einzelne Autorin leisten konnte, ist vollkommen geschehen, und was in Zukunft Nutzer an Ergänzungen beitragen mögen, wird den Rang dieses Referenzwerks der Wolf-Forschung nur bestätigen können.

Ulrich Konrad
Würzburg, 13.03.2012

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Komponist, Rezension, Werkverzeichnis, Wolf, Hugo (1860-1903) abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.