„…mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen…“: Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen [Claudia Niebel]

„…mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen…“: Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen / Hrsg. von Carolin Stahrenberg und Susanne Rode-Breymann. – Hannover: Wehrhahn, 2011. – 223 S.: zahlr. Ill. u. Notenbsp. (Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender ; 1)
ISBN 978-3-86525-193-0 : 20,00 € (kart.)

Sergiu Celibidache bezeichnete in einem Interview (vgl. Klaus Umbach, Sergiu Celibidache, Piper, 1997) Anne-Sophie Mutter als „geigendes Huhn“ und Wilfried Strehle, langjähriger Solobratscher der Berliner Philharmoniker, der als Professor an der Universität der Künste Berlin Generationen von BratscherInnen unterrichtet hat, resümiert in einem Gespräch (A Trip to Asia, DVD Berliner Philharmoniker, 2008), dass es „unterm Strich nicht sehr sinnvoll gewesen sei“, Frauen ins Orchester aufzunehmen. Es sind dies nur zwei Bonmots aus jüngerer Zeit, und man mag einwenden, dass dies nicht die herrschende Meinung oder Praxis repräsentiere, sondern die Gleichberechtigung in der beruflichen Musikausübung längst Tatsache sei. Andererseits wären Bezugnahmen der Gender-Forschung nicht möglich, hätte man Vorurteile, tradierte Ansichten oder Verwerfungen, die sich aus aufeinanderprallenden Auffassungen ergeben, längst überwunden. Setzen sich derlei Betrachtungsweisen sogar bis heute fort, gibt es in der Vergangenheit umso mehr Ansatzpunkte für genderdefinierte Forschungsvorhaben.
Der von den Herausgeberinnen Susanne Rode-Breymann und Carolin Stahrenberg verantwortete Sammelband aus dem Forschungszentrum Musik und Gender Hannover, der den Auftakt einer neuen Reihe bildet, befasst sich explizit mit der Aufarbeitung der Quellenlage in Bezug auf geigende Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Autorinnen der Essays rekrutieren sich fast ausschließlich aus künstlerisch-wissenschaftlichem Nachwuchs, sind allesamt mit musikwissenschaftlichem Hintergrund ausgestattet und verfügen fast alle selbst über Erfahrung als Geigerinnen oder Violinpädagoginnen. Der im Umfeld des Hannoveraner Genderzentrums angesiedelte Violin-Wettbewerb Joseph Joachim, der seit 1991 stattfindet, liefert dem Forschungsvorhaben zusätzliches Anschauungs- und Quellenmaterial. Bei den ausgemachten Protagonistinnen der Essays handelt es sich um elf Geigerinnen aus zwei Jahrhunderten, die in einem Zusammenhang mit dem zuvor erwähnten Wettbewerb stehen und deren Lebensgeschichte und künstlerische Handlungsspielräume so ausgelotet und aufbereitet werden, dass das Buch sich für ein breites, kulturell interessiertes Publikum als Lesebuch eignet. Die Herausgeberinnen haben die Ergebnisse dieser Spurensuche in vier unterschiedliche Kapitel zusammengefasst, die ihrerseits durchaus progressiv zu verstehen sind. Sie beginnen mit konzertierenden (Kinder-)Virtuosinnen des 19. Jahrhunderts auf Reisen (die Schwestern Milanollo, Wilma Neruda, Erica Morini), die auf unterschiedliche Weise versuchten, ihre Begabung zum Broterwerb zu nutzen und die ebenso individuell verschieden, bittere Erfahrungen machten.
Der zweite Teil beschäftigt sich unter dem Aspekt eines Lebensweges am Wendepunkt mit Frida von Kaulbach und Ginette Neveu, deren Karrieren durch einschneidende Ereignisse, im letzteren Fall durch Tod, zum Ende kamen. Den unter dem Leitgedanken der Identitätssuche fokussierten Geigerinnen Edith Lorand, Marie Soldat-Roeger und Dorothy DeLay gelang es, auf ungewöhnlichem Terrain und ebenso individuell, erfolgreich auf höchstem Niveau eine „Nische“ zu besetzen, die untrennbar mit ihrem Namen verbunden ist. Alma Moodie und Sophie-Carmen Eckhardt-Gramatté als schöpferisch begabte Interpretinnen lieferten wertvolle Beiträge zum Violinrepertoire und gelten als Wegbereiterinnen zeitgemäßer Kompositionen für die Geige. Jeder Interpretin ist im Buch ein kurzer biographischer Abriss vorangestellt, dem zeitgenössische Quellen (Faksimile, Dokument) folgen. Abschließend setzt sich ein kulturhistorisch und/oder rezeptionsgeschichtlich motivierter Essay mit der Künstlerin, ihrer Sozialisation, ihrem Umfeld und ihrer spezifischen Motivation auseinander. Voraussetzung ist hierfür eine relativ gute, aber noch wenig gesichtete oder gar strukturierte Quellenlage, die hier quasi „en passant“ gleich mit aufbereitet wird. Alle Biographien sind Teil eines größeren Gesamtzusammenhangs (Dissertation, Forschungsprojekt usw.) und lassen auf weitere, erhellende Einsichten hoffen.
Das gut lesbare Buch ist jedenfalls überaus gelungen, regt zum Nachdenken/Nachhören (auch durch weiterführende Literatur- und CD-Angaben) an und man wünscht dem Forschungszentrum weiterhin viel Erfolg und Erkenntnisreichtum bei seiner wertvollen Arbeit.

Claudia Niebel
Stuttgart, 12.03.2012

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