Leo Kestenberg: Briefwechsel. Erster Teil. Briefe von und an Adolf Kestenberg, Ferruccio Busoni, Georg Schünemann und Carl Heinrich Becker

Leo Kestenberg: Briefwechsel. Erster Teil. Briefe von und an Adolf Kestenberg, Ferruccio Busoni, Georg Schünemann und Carl Heinrich Becker / Hrsg. von Dietmar Schenk. – Freiburg: Rombach, 2010. – 352 S.: Abb. (Gesammelte Schriften ; 3,1)
ISBN 978-3-7940-9577-4 : € 68,00 (geb.)

Die von Dietmar Schenk kenntnisreich und sorgfältig edierten und kommentierten vier Briefwechsel mit Zeitgenossen Kestenbergs im ersten Band der Briefe aus den Gesammelten Schriften geben quasi einen Einblick in die Innenseite und den Werdegang der veröffentlichten Schriften Kestenbergs, als eine Art von Parallelkommentar. Kestenbergs Vater Adolf (1856–1930) enthüllt sich als einer der wenigen, zunächst orthodox-jüdischen Kantoren, die von einem Tag auf den anderen über die Thora die Schriften von Heinrich Heine und August Bebel legten, Liebhaber von geistiger Freiheit und Sozialismus wurden und alle Energie auf das Fortkommen ihrer Kinder legten. Davon konnte der frühreife Leo Kestenberg als einziger Sohn nur profitieren und wurde schnell Busoni-Schüler. Im Falle des Briefwechsels mit Busoni haben wir fast nur Briefe des Komponisten, in denen er sich als ein nonchalanter (Lebens-)Künstler zeigt, der über Abgründe balanciert und mit Kestenbergs Schreibfaulheit und unterwürfigen Adressen wenig anfangen kann.
Umgekehrt haben wir beim Briefwechsel mit Georg Schünemann, dem quantitativen (über 200 Seiten) und qualitativen Kernstück des Bandes, nur die Briefe Kestenbergs, da er die Briefe seines in der Weimarer Republik wichtigsten Gesprächspartners (er war der effektive Leiter der Berliner Musikhochschule), dann aber „Abtrünnigen“, nach dessen nationalsozialistischen Sündenfall nicht aufbewahren wollte. Kestenbergs Briefe an Schünemann sind ein für das richtige Verständnis der offiziellen Schriften sehr aufschlussreiches Konvolut, in dem sich herrliche Funde machen lassen über Inspirationen durch Goethes Wilhelm Meister, aber auch über eine gefährliche Überordnung der Gemeinschaft über das Individuum, der Volks- über die Kunstmusik, der Nation über den Menschen. Kestenbergs anfängliche Nähe zum „Tatkreis“ um den Verleger Eugen Diederichs, der später zum Zentrum einer so genannten Konservativen Revolution wurde, lässt erkennen, wie fließend in der Weimarer Zeit die Grenzen zwischen rechter und linker Gemeinschafts-Ideologie waren. Bei Kestenberg siegten letztlich seine sozialdemokratischen Wurzeln, war er doch 1918 von der USPD her ins Ministerium gekommen.
Der Briefwechsel mit dem verjagten Kultusminister Becker zeigt, wie die kulturpolitischen Fronten am Ende der Weimarer Republik verliefen: Das vor Hitler schon deutschnational-autoritär regierte Reich vertrieb die Regierenden im sozialliberalen Preußen. Und Preußen fungierte im Reich wie ein Stachel der Reformen im Fleisch der mehrheitlich rückwärtsgewandten Nation, in der Überheblichkeit und Untertanengeist stärker waren als republikanische Vernunft und demokratische Musikkultur.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM  MUSIKIBLIOTHEK 32 (2011), S. 69f.

 

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