Leo Kestenberg: Die Hauptschriften / Hrsg. von Wilfried Gruhn

Leo Kestenberg: Die Hauptschriften / Hrsg. von Wilfried Gruhn. – Freiburg: Rombach, 2009. – 416 S.: Abb. (Gesammelte Schriften ; 1)
ISBN 978-3-7930-9575-0 : € 78,00 (geb.)

Wer sich fragt, wo eigentlich manch gute Absichten herkommen, mit denen an deutschen Schulen heute noch Musikunterricht erteilt wird, welch idealistisches Menschenbild und welch soziale Verantwortung den Lehrplänen, Deputat- und Etatzuweisungen vielleicht noch innewohnen, der findet in den jetzt wieder zugänglich gemachten Hauptschriften Leo Kestenbergs (1882–1962) eine ihrer wirkungsmächtigen Quellen. Nach Abschaffung des König- und Kaisertums in Preußen und Deutschland konnte Kestenberg im Rahmen der ersten demokratischen preußischen Regierung nach Gründung der Weimarer Republik auf dem Gebiet der Musikerziehung Reformbestrebungen in Gang setzen, die sich zwar auch auf früher schon angestrebte Reformen in Altpreußen seit Wilhelm von Humboldt stützen konnten, die aber von ständischen, kirchlichen und besonders wirtschaftlichen Interessen immer wieder verdrängt worden waren. Ohne sich großartig auf seine Vorgänger zu beziehen, entwickelte Kestenberg ein auf seinen Erfahrungen als Pianist und volksbildnerischer Theater- und Konzertmanager beruhendes Konzept, das Musik mit Demokratie und Sozialismus verknüpfte und von einer Erziehung zur Menschlichkeit von und mit Musik ausging. Noch bevor die Nazis ihr „Drittes Reich“ aufmachten, wurde Kestenberg 1932 aus seinem Amt gedrängt.
Dieser Band der von einem Doyen der deutschen Musikpädagogik, Wilfried Gruhn, unter Mitwirkung von Ulrich Mahlert, Dietmar Schenk und Judith Cohen herausgegebenen Gesammelten Schriften Kestenbergs enthält die 1921 veröffentlichte grundlegende Schrift Musikerziehung und Musikpflege und das daraus entstandene Memorandum an das preußische Kultusministerium, dessen Referent in Sachen Musik Kestenberg war, die Denkschrift über die gesamte Musikpflege in Schule und Volk von 1923.
Wer sich fragt, durch welches auch von den staatlichen Institutionen unterstützte kulturelle Klima das sagenhafte Musikleben Berlins in der Weimarer Zeit, das zwischen Tradition und Moderne changierte, bedingt war, der findet in Kestenbergs Absichten und Erläuterungen den ideengeschichtlichen Hintergrund und Ausgangspunkt. Das Ziel von Kestenbergs Überlegungen zu allen Bereichen der Musikausbildung vom Kindergarten bis zur Universität und zum öffentlichen Musikleben war es, die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufzuheben, wobei er sich über die allseitige Fähigkeit zur höheren Musikwahrnehmung und -produktion wohl Illusionen machte. Auch eine generelle Veredelung des Menschen durch Musik erscheint einem heute, im Zeitalter permanenter Musikberieselung, als etwas blauäugig. Aber abgesehen von diesen, auch ins Nationalistische abdriftenden ideologischen Bestandteilen (die bei Kestenberg Reste der Wandervogel- und Jugendmusikbewegung sowie der Arbeiterbildungsprogramme waren) gibt diese gut edierte und kommentierte Ausgabe viele auch heute noch bedenkenswerte Hinweise auf musikpädagogische Aspekte.
Auch Kestenbergs Autobiografie Bewegte Zeiten, die er so ganz bedenkenlos „Musisch-musikantische Lebenserinnerungen“ nannte und als alter Mann in Israel abgefasst hat, ist hier wieder abgedruckt.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlich in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 68f

 

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