Laurenz Lütteken: Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis [Ingeborg Allihn]

Lütteken, Laurenz: Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis. – Kassel u.a.: Bärenreiter und Stuttgart: Metzler, 2011. – 241 S.: s/w Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-2056-8 : € 22,95 (kart.)

„Am Ende“, schreibt Laurenz Lütteken, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, „soll erkennbar werden, warum es sich bei der Renaissance um eine Epoche handelt, zu der die Musik ebenso notwendig gehört wie die Baukunst, die Malerei, die Literatur, die Philosophie und die politischen Verstrickungen handelnder Menschen auf all jenen Ebenen, die sich mit einiger historischer Verantwortung differenzieren lassen.“ (S. 22) Und genau das wird auf sehr spannende Weise bei der Lektüre erkennbar! Der Autor vermisst den Zeitraum von ca. 1400 bis ca.1600, der als Epoche der Renaissance in die Literatur eingegangen ist, auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei lässt er den Blick aus verschiedenen Richtungen über ein und dieselbe ‚Fläche’ schweifen. Mit seismographischer Genauigkeit werden Veränderungen, Abweichungen, Divergenzen und Vernetzungen aufgespürt, besonders aber wird das Neue, das so noch nicht Dagewesene auf der Basis eines beeindruckend umfangreichen Faktenreichtums herausgearbeitet und genau beschrieben. Da geht es um „Epoche und Begriff“ (S. 9ff.), um „Soziale Wirklichkeit und kulturelle Interaktion“ (S. 60ff.), um „Text und Texte“ (S. 101ff.), um „Wahrnehmungsformen“ (S. 145ff.) und um den Bereich der „Memoria“ (S. 188ff.). Nicht das einzelne musikalische Werk und sein Schöpfer stehen im Mittelpunkt der Überlegungen – obwohl an ausgewählten Kompositionen und einzelnen Komponisten häufig das Exempel statuiert wird. Die zentrale Aufmerksamkeit gilt jedoch den fünf Bedeutungsfeldern mitsamt ihren charakteristischen Erscheinungsformen. Sie werden konsequent aus der musikhistorischen Perspektive betrachtet, wobei jedoch nicht versucht wird, die „Musik der Renaissance […] in eine Kulturgeschichte zu integrieren, sondern (sie) als eine Kulturgeschichte eigenen Rechts zu verstehen.“ (S. 13)
Im Unterschied zum Mittelalter wird Musik im Zeitalter der Renaissance ganz bewusst von den Zeitgenossen als eine bestimmte, unverwechselbare Musik eines ganz bestimmten Autoren wahrgenommen und gewürdigt. Damit beginnt Musik, ihre eigene Geschichte zu entfalten, sie wird gleichsam zum Gegenstand der Geschichte: in den Theoretica wird über Musik und ihre Wirkung auf den Hörer nachgedacht; in dem eigens dafür erfundenen Schriftsystem, den Noten, materialisiert sich das „Nachdenken in Musik“ (S. 101). Aber auch die Einstellung zur musikalischen Wirklichkeit verändert sich grundlegend. Besonders deutlich zeigt sich das in der Malerei. Herausgelöst aus rituellen oder zeremoniellen Anlässen wird Musik jetzt einzig und allein als Musik dargestellt. Aber nicht nur das, auch die Komponisten, die nun über einen individuellen Namen und über ein Werk verfügen, treten aus der Anonymität heraus. In diesem Zusammenhang macht der Autor darauf aufmerksam, dass die Geschichte der Musikerbildnisse, von denen es bis heute noch nicht einmal eine systematische Bestandsaufnahme gibt, erst noch geschrieben werden müsse. In jedem der fünf Kapitel wird zudem stets ein kurzer Blick zurück ins 14. Jahrhundert und gegebenenfalls in die Zeit davor geworfen, genauso wie der Gang der Geschichte nach 1600 angedeutet wird. Laurenz Lüttekens „Musik der Renaissance“ bietet eine spannende, allerdings nicht ganz leichte Lektüre.
Im Anhang befinden sich ein Glossar, Literaturhinweise, ein Personenregister und der Abbildungsnachweis.

Ingeborg Allihn
Berlin, 27.02.2012

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