Mozart-Handbuch

Mozart Handbuch KirchenmusikMozarts Kirchenmusik, Lieder und Chormusik / Hrsg. von Thomas Hochradner und Günther Massenkeil – Laaber: Laaber-Verlag, 2006 – 620 S. : 48 Notenbeisp., 42 Abb. (Das Mozart-Handbuch ; 4)
ISBN 3-89007-464-2 : € 118,00 (geb.)

Mozarts Klavier- und Kammermusik / Hrsg. von Matthias Schmidt – Laaber: Laaber-Verlag, 2006 – 592 S. : 72 Notenbeisp., 39 Abb. (Das Mozart-Handbuch ; 2)
ISBN 3-89007-462-6 : € 118,00 (geb.)

1. Dieses zwar nicht erste, aber alle bisherigen Veröffentlichungen verarbeitende, überprüfende und überbietende Kompendium über Mozarts Kirchenmusik ist für eine ernsthafte zukünftige Beschäftigung mit diesem Gegenstand unentbehrlich. Hier wird die historische Wahrheit ausgesprochen, daß ein bedeutender Teil der überlieferten Musik Mozarts nicht in das letzte Wiener Jahrzehnt fällt, sondern bereits in Salzburg absolviert wurde. Wie sinnvoll es sein kann, zwei Messen Mozarts parallel zu besprechen, demonstriert Günther Massenkeil in dem Abschnitt über die Waisenhaus- und Dominicus-Messe (c-Moll, KV 47a und C-Dur, KV 66), denn hier werden nicht nur die formalen Ähnlichkeiten deutlich, sondern auch die größere Kraft musikalischen Ausdrucks in der frühesten solennen und konzertanten Messe Mozarts. Mit der Anlage dieser Messe korrespondiert auch das spätere Fragment einer weiteren c-Moll-Messe am intensivsten. Aber der im Kapitel über die Messen pauschal erhobene Anspruch, diese seien für Mozarts sakrale Musik „zentral“, wird durch die substantiellen Hinweise in den Kapiteln über dessen Vespern (Ulrich Haspel) und Litaneien (Magda Marx-Weber) indirekt fraglich. Nirgends konnte und wollte Mozart in größerer Freiheit seine religiösen Empfindungen, die ihm bei der Vertonung der lateinischen Dichtungenwichtig waren, besser in Töne fassen, als bei den liturgisch ungebundenen Andachtsmusiken. Bernd Edelmann steuert einen überaus kenntnisreichen, sorgfältigen und liebevollenArtikel über die bisher vernachlässigten Oratorien Mozarts aus dessen Kindheit und Jugend bei sowie einen Beitrag über dessen spätere Bearbeitungen Händelscher Oratorien. Unverständlich muß bleiben, warum an keiner Stelle dieses Bandesauch nur ein winziger Hinweis auf Mozarts erstes kirchenmusikalisches Werk gegeben wird, die Passionskantate „Grabmusik“, KV 42, die der Elfjährige komponierte. Dieses deutschsprachige, mit protestantischen Traditionen verwandte Opus ist aber unumgänglich, will man die Entstehung von Mozarts sakraler Musik verstehen, auch setzte noch der 20jährige diesem Kindheitswerk einen Schlußchor hinzu. Dieses Manko korrespondiert mit zwei anderen Umständen, die sich zusammengenommen zu einer fast schon problematischen Tendenz des Buches auswachsen. Nirgends wird Mozarts Stellung zur protestantischen Kirchenmusik seiner Zeit thematisiert, und viel Raum wird der innerkatholischen Frage nach Aufführungsmöglichkeiten von Mozarts gebrauchsmusikalischen Messen im heutigen Gottesdienst gewidmet, während die brennendere Frage, welche Bedeutung Mozarts geistlicher Musik im Rahmendes weltlichen Konzertbetriebs zukommen könnte, völlig ausgespart wird. Um so wertvoller sind die ausgiebigen, konfessionell gebundenen kulturgeschichtlichen Abschnitte über die Geschichte und Situation der katholischen Messe zu Lebzeiten Mozarts, in deren Rahmen auch die Beschneidung von Mozarts Entfaltungsmöglichkeiten in der Meßkomposition durch die Reformen Colloredos beschrieben wird. Ein lediglich 70 Seiten umfassender 2. Teil ist weltlichen Vokalgattungen (Mozarts Klavierliedern, Kanons, mehrstimmigen Gesängen und Freimaurermusiken) gewidmet.

Mozart Handbuch Klaviermusik2. Demgegenüber ist der Band über Mozarts Kammermusik rundum, konzeptuell wie im Detail, als ein großer Wurf zu betrachten, der die avanciertesten Ansichten in der Mozartforschung präsentiert und ihr zugleich neue Perspektiven eröffnet. Das liegt einerseits an der klugen Hand des Herausgebers Matthias Schmidt, der in einer ausführlichen Einleitung die nicht so sehr populären, als vielmehr wissenschaftlichen Mozart-Klischees als untauglich verabschiedet. Und andererseits an den durchweg differenziert argumentierenden und auch schön geschriebenen Einzelbeiträgen, die unterschiedliche Zugänge zu den von Mozart benutzten Gattungen finden: zu seiner vernachlässigten Kammermusik mit Klavier (Eberhard Hüppe, Joachim Brügge und Thomas Schmidt-Beste) und mit Bläsern und Streichern (Erich Reimer, Wolfram Steinbeck, Wilhelm Seidel und Matthias Schmidt). Die Legende von dem zunächst stark von außen beeinflußten Jungkomponisten, der erst später in Wien ein reifer „Klassiker“ wurde, hat hier keine Chance mehr. Das allseits beliebte Schlafmittel der Mozartanalyse, die Sonatensatzform, wird hier nur noch als Umriß eines späteren Konstrukts, mit dem man Mozarts Lebendigkeit nachträglich zu bändigen versuchte, anerkannt und eingesetzt, aber nicht mehr als eine von Mozart befolgte Norm behandelt. In den Band eingestreut ist eine Reihe von Essays, die sich etwas allgemeiner mit kultur-, kompositions- und instrumentengeschichtlichen Fragen beschäftigen. Unter diesen fällt der von H. U. Gumbrecht negativ auf, weil er ein großes ideengeschichtliches Sammelsurium auftischt, nur um einvergnügliches Hörerleben Mozartscher Musik gegen eine verstehende Analyse auszuspielen. Mozarts stets inhaltsreiche und präzis erzeugte Klangstimmungen haben aber beispielsweise mit Heideggers inhaltsleeren Stimmungen, mit „Geworfenheit desmenschlichen Daseins“ gewiß nichts zu tun. Was eine glücklich gelungene Synthese v n charaktervoller Hörerfahrung und analytischer Beschreibung ist, könnte Gumbrecht lernen an Wilhelm Seidels Streichquartett-Beitrag. Beide Bände enthalten einen Anhang mit Kurzbiographien der Autoren, Abkürzungs-, Werk- und Literaturverzeichnis, Register der Personen und der erwähnten Werke Mozarts. Diese beiden (neben dem Mozart-Lexikon, siehe FM 2006/2) erschienenen Werkbände aus dem Mozart-Handbuch bei Laaber lassen das Unternehmen als einen Fortschritt in der Mozartforschung erscheinen, der Musikbibliotheken dazu ermuntern könnte, das sechsbändige Gesamtwerk zu abonnieren.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 277ff.

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