Herrmann, Walter: Faszination Oper. – Wien [u.a.]: Böhlau, 2006. – 204 S. : 51 Abb. s/w
ISBN 3-205-77474-4 : € 19,90 (geb.)
Totgesagt wurde sie schon oft: die Oper. Doch solange sie kulturpolitische Debatten beherrscht und die Gemüter bewegt, kann von ihrem Ableben keine Rede sein. Diese Tatsache beflügelte den Historiker und Germanisten Walter Herrmann, einen der in Österreich publizistisch engagiertesten, mit der Wiener Staatsoper eng verbundenen Opern-Experten, zu einer facettenreichen und prägnanten, persönliche Stellungnahme und vielfältigen Informationswert verbindenden Betrachtung wesentlicher Aspekte des Phänomens Oper als Ganzem. Allein in der Zustimmung und Ablehnung, auf die sich der altgediente Opernenthusiast im Vorwort gefasst zeigt, liege ein erster Beweis für die Lebensfähigkeit der Kunstform Oper. Deren Faszination gehe für ihn nicht von Ideen, sondern von Situationen aus, die im Libretto geschildert, in der Musik emotional vermittelt werden. Und wer mehr wisse über Werke und ihre Autoren, höre mehr, lasse sich leichter infizieren von der unheilbaren, ungefährlichen Liebe zum Musiktheater.
In diesem Sinne formiert sich das gute Dutzend der essayartigen Einzelkapitel mithin zu einem kompakten Brevier für den angehenden Opernfan. Auf schlüssige Tipps zur Vor- und Nachbereitung eines Opernbesuchs folgen historiographische Skizzen und sachlich begründete Ratschläge zu den Problemfällen Original- oder Landessprache, Urfassung oder Umarbeitung, Repertoiretheater oder Stagionebetrieb. Fallbeispiele, Pressezitate und Künstler-Statements rekrutieren sichprimär aus dem Wiener Umfeld. Entsprechend repräsentativ ist das Bildmaterial: Nebenden großen Interpreten steht Dokumentarisches und Szenisches – zumal dort, wo Herrmann Veränderungen des Opernbetriebs (Dominanz der Optik, Beifallsusancen) sowie Entwicklungen und konkrete Personalia des Regietheaters skeptisch, aber auch zuversichtlich unter die Lupe nimmt. Grundtenor: Kreativität und Modernität ja, Werkentstellung nein, Qualität als oberstes Gebot. Diskussionsthemen und Repetitorien auch für gestandene Insider rangieren unter „Sternstunden der Größten“ (mit frappanten Besetzungsvergleichen) oder unter Einzelstudien zur Spezies Heldentenor sowie zu Tempofragen. Ließe sich die wenig stringente Anekdotensammlung des Schlusskapitels überarbeiten, so verdienen jene Befunde und Postulate umso höhere Beachtung, die sich unmittelbar mit den Praktiken der Schaffenden und der Rezensenten auseinandersetzen. Herrmanns Einlassungen steigern sich förmlich zum Positionspapier, wenn er an das Verantwortungsbewusstsein der Intendanten und Direktoren appelliert, Kriterien für das Zusammenspiel der subjektiven und objektiven Elemente einer sachgerechten Opernrezension benennt und streitbar gegen Unterlassungen eines deutschen Kritikerpapsts zu Felde zieht. Derlei Basisarbeit und kritische Beobachtung seitens einer kompetenten Kenner-Lobby hat unser kulturelles Leben heute nötiger denn je.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 274f.