Peter Gülke: Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts

Gülke, Peter: Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts. – Stuttgart, Kassel [u.a.]: Metzler und Bärenreiter, 2003. – XXVI, 504 S.: Abb. und zahlr. Notenbeisp.
ISBN 3-476-01883-0 (Metzler) u. 3-7618-2026-7 (Bärenreiter) : € 39,95 (Pb.)

Als „Versuch, Du Fays Werk zu vergegenwärtigen“, bezeichnet Peter Gülke bescheiden seine Monographie zu Du Fay (1397–1474) und der Musik des 15. Jahrhunderts im allerletzten Abschnitt des Haupttexts, S. 435. Es folgen noch 16 Seiten Notenanhang, 14 Seiten Werkverzeichnis, 3 Seiten Werkregister, 5 Seiten Glossar, 15 Seiten Literaturverzeichnis und 13 Seiten Personenregister. Mit also insgesamt 504 Seiten in klein gedruckter Schrift (schwer zu lesen, wenn man keine guten Augen hat) ist Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts ein sehr dichtes und passioniertes Buch, das uns einen weitreichenden Blick in das Leben und Werk eines der größten Komponisten der abendländlichen Musik verschafft.
Der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke (*1934), Autor zahlreicher Bücher und Artikel – u. a. über Schubert, Brahms, Brückner, Janácek, Beethoven, Bach und zeitgenössische Komponisten – wurde 1957 in Leipzig bei Heinrich Besseler mit einer Dissertation über die burgundische Chanson des 15. Jahrhunderts promoviert. Besseler, ein Doyen der europäischen Musikwissenschaft, hat mit seinem historischen Stil und mit einigen Schlüsselwerken – wie z.B. Die Musik des Mittelalters und der Renaissance (1931) und vor allem dem sehr umstrittenen Buch Bourdon und Fauxbourdon (1950) – die Musikwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark geprägt. Von ihm stammt auch die Gesamtausgabe von Du Fays Werken (1951–66), die erst 1995 von David Fallows revidiert wurde.
Mit seinem Doktorvater verbindet Gülke seine ausgeprägte Neigung zur historischen Kontextualisierung der Musik. Als zentrale Figur des 15. Jahrhunderts hat Du Fay doppelt so lange gelebt wie der Durchschnitt seiner Zeitgenossen. Du Fays Talent wurde schon sehr früh von seinem Lehrer in der burgundischen Kathedrale von Cambrai, in die er 1409 als Sängerknabe eintrat, erkannt. Cambrai, Konstanz, Bologna, Rom, Lausanne und wieder Cambrai waren einige wichtige Stationen seines langen Lebens. Du Fays Kompositionen entstanden im Dienst der wichtigsten Höfe seiner Zeit, u. a. dem päpstlichen und denen der Herzöge von Savoy und von Burgund. Sein Werkverzeichnis umfasst die drei Hauptgattungen der Musik der Frührenaissance: Messen, Motteten und Chansons sowie andere weltliche Werke.
Gülke erläutert die Entwicklung von Du Fays Musik parallel zu seiner Lebensgeschichte und den historischen und kulturellen Ereignissen der Zeit. Er bringt detaillierte Analysen, die mit zahlreichen Notenbeispielen illustriert sind. Du Fays Musik setzte sich mit allen polyphonen Formen der Zeit auseinander und schuf eine Brücke zwischen den Kompositionstechniken des Mittelalters und der Renaissance. Die von ihm am häufigsten verwendeten Kompositionstechniken und Formen waren Cantus Firmus-Tenor mit einer oder zwei zusätzlichen Stimmen, isorhythmische Motette und Fauxbourdon.
In dem wichtigem Kapitel „Modus, Tonalität und Perspektive“ analysiert Gülke den Beitrag von Du Fays Musik zur Entwicklung von harmonischem Denken in Bezug zur Entstehung der Zentralperspektive. Wie im ganzen Buch, werden die Überlegungen durch viele Assoziationen mit der Geschichte, Politik, Kultur, Philosophie und Kunst erweitert. Z. B.: „Harmonische Tonalität ebenso wie Zentralperspektive mussten zunächst sich [sic!] darstellen als Erschließung von Dimensionen, welche in der puren Materialität der modalen Linie bzw. der Bildfläche nicht enthalten waren“ (S. 225). Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts hat das Potenzial, ein Standardwerk für Du Fay und Frührenaissance-Studien zu werden. Für Musikwissenschaftler ist die Monographie eine wahre Fundgrube mit Informationen und Empfehlungen zur Vertiefung in die faszinierende Materie der Musik des Mittelalters und der Renaissance. Gülkes umfassende musikalische Kenntnisse und sein Musikverständnis reichen weit über das  15. Jahrhundert hinaus; seine hervorragenden Analysen und die umfangreichen Musikbeispiele machen das Buch zusätzlich wertvoll.
Trotz aller positiven Seiten ist es jedoch sehr mühsam, Gülkes Gedanken zu folgen. Das Problem liegt in seinem Stil. Der „normale“ Leser hat es wirklich schwer, die Sprache des Autors und Hunderte von Fußnoten im Blick zu haben. Zitat einer Kundenrezension auf Amazon.de: „Es ist ausgesprochen leserfeindlich. Ein ungemein geschwollener Stil, mit zahllosen verschachtelten Sätzen macht keine Lust, sich mit dem Gegenstand zu beschäftigen.“ Als Leser, der von einem Buch verführt sein möchte, muss ich leider zustimmen. Ich denke, es ist durchaus möglich, tieferes und dichtes Wissen in einer angenehmeren Sprache zu vermitteln.

Paulo C. Chagas
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 443f.

 

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