Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 2: Musiktheorie

Musiktheorie. Hrsg. von Helga de la Motte-Haber und Oliver Schwab-Felisch. – Laaber: Laaber, 2005 – 524 S.: Ill., graph. Darst., Notenbeisp. (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft ; 2).
ISBN 3-89007-563-0 : € 92,00 (geb.); bei Subskr. günstiger

Musiktheorie ist eng mit Musikästhetik verwandt. Deshalb findet man im zweiten Band des Handbuchs der Systematischen Musikwissenschaft einige Themen, die schon im ersten Band behandelt wurden (s. meine Rez.). Das ist nicht zum Nachteil, im Gegenteil:
Hier sind die Beiträge klarer und systematischer strukturiert. Es gibt weniger Spekulation und mehr Hintergrundinformation über die „verschiedenen Formen der Begründung von Musik“ (S. 9). Der Gliederung der 22 einzelnen Artikel, liegen, wie de la Motte-Haber im Vorwort erklärt „mathematische, physikalische, psychologische und system- und kommunikationstheoretische Kriterien zugrunde“.
Einen Schwerpunkt des Buches bilden die Theorien von Tonalität und Tonhöhenorganisation. Aus dieser Perspektive analysiert Volker Helbing z. B. die Französische Musiktheorie zwischen Rameau und Fétis. Hugo Riemanns (1849–1919) Beitrag zur Musiktheorie wird in drei verschiedenen Artikeln untersucht. Helga de la Motte-Haber hebt die Beziehung zwischen Theorie und Ästhetik in Riemanns Musiklehre hervor, deren Wirkung auf die klassisch-romantische Musik begrenzt ist und von der nur Bruchstücke geblieben sind. Eins davon ist die funktionale Harmonielehre. Obwohl Riemann keine Schule begründet hat, übt seine Harmonielehre einen enormen Einfluss auf den Musikunterricht im deutschen Sprachraum aus. Ludwig Hotmeier schreibt über die Hauptströmungen der Riemann-Rezeption und Johannes Menke über die Weiterentwicklung der funktionalen Harmonielehre durch Musiktheoretiker wie Diether de la Motte und Komponisten wie Alois Hába.
Der Schweizer Musiktheoretiker Ernst Kurth (1886–1946) erlangte großes Ansehen durch seine Grundlagen des linearen Kontrapunktes (1917). Beeinflusst von der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches entwickelte er eine Theorie der musikalischen Energetik, die als Schlüsseltheorie für das Verständnis der Beziehung zwischen Musik und Narrativität gilt. In ihrem (abgesehen von der Einleitung) zweiten Beitrag für das Handbuch schreibt de la Motte-Haber über Ernst Kurth. Sie erwähnt auch den russischen Musiktheoretiker und Komponisten Boris Assafjew, eine Schlüsselfigur für Musiktheorie und Musiksemiotik des sowjetischen und skandinavischen Raums. Aber leider erfährt man im Artikel wie auch im gesamten Handbuch zu wenig über Assafjew. Werner Krützfeldts Kapitel über Linearität in der Musik des 20. Jahrhundert ist zu eng fokussiert. Er betrachtet nur ein paar Komponisten wie Krenek und daneben Schönberg und Webern. Wenn man von Linien spricht, böte sich die Gelegenheit, die Untersuchungen auf Komponisten wie z. B. Bartok oder Janacek (Theorie der Sprachmelodie) zu erweitern. Durch ihre Beziehung zur europäischen populären Musik wurden neue theoretische Ansätze entwickelt, die hier überhaupt nicht zur Sprache kommen.
Dagegen widmet der Herausgeber Oliver Schwab-Felisch dem Wiener Musiktheoretiker Heinrich Schenker (1868–1935) einen wichtigen Beitrag. Schenkers „Schichtlehre“ und seine graphische Analyse der Tonalmusik erlangten große Popularität an den nordamerikanischen Universitäten. Schenker untersucht die Wahrnehmung von Tonalität durch das Konzept einer Grundstruktur – den Ursatz – und deren Entfaltung von Linien in der Zeit. Der Autor bringt eine anschauliche Darstellung der Schenkerschen Musiktheorie, ihrer Verbreitung in den USA und auch die Einwände der Kritiker. Christian Thoraus Artikel beschäftigt sich mit der Musiktheorie, die sich aus der Tradition der Semiotik, Linguistik und Kognitionswissenschaft herausentwickelt hat. Seine Beobachtung beschränkt sich leider auf nordamerikanische Autoren wie Kofi Agawe, Robert Hatten und Lawrence M. Zbikowski. Europäische Autoren wie z. B. Karbusicky, Tarasti oder Monelle werden nicht erwähnt.
Der Amerikaner Allen Forte ist der bekannteste Vertreter der mathematischen Musiktheorie. Sein Pitch-Class-Set-System reduziert die Tonhöhen auf Tonhöhenklassen (Sets), die durch verschiedene Operationen kombiniert werden. Dadurch erhofft sich Forte, die Struktur der atonalen Musik erklären zu können. Vorbilder seiner Theorie sind die atonalen Werke der Zweiten Wiener Schule (Schoenberg, Berg und Webern). Trotz aller Kritik an Fortes Theorie, die von vielen Autoren geübt wird, zieht Ullrich Scheideler eine positive Bilanz, vor allem wenn die Abstraktionsprozesse des Pitch-Class-Set-Systems mit der Analyse des historischen Kontextes verknüpft ist. Die vielfältigen Beziehungen zwischen Musik und Mathematik haben im 20. Jahrhundert einen neuen Aufschwung bekommen. Der Artikel von Thomas Noll konzentriert sich auf die mathematische Theorie von Autoren wie John Clough, David Lewin und Guerino Mazzola, von denen Lewin vermutlich der bekannteste ist. Seine„Transformational Theory“ wird von Noll als „Paradigmenwechsel“ der Musiktheorie bezeichnet.
Im ersten Kapitel des Handbuchs betrachtet Klaus-Jürgen Sachs kosmische Visionen der Musik von der Antike bis zur Renaissance, wie z. B. die Zahlentheorie von Pythagoras, das mittelalterliche System von Guido, die Proportionslehre von Johannes Tinctoris und die Lehre von Gioseffo Zarlino, die aus der pythagoreischen Musiküberlieferung schöpft. In einem anderen Beitrag analysiert Andreas Holzer das Wiederaufleben pythagoreischer Traditionen in den Werken von Komponisten des 20. Jahrhunderts, z. B. kombinatorische Verfahren in der seriellen Musik (Stockhausen), symmetrische Strukturen (Messiaen), Modelle aus der Chaostheorie und fraktale Geometrie (Ligeti).
Der Artikel von Wolfgang Hirschmann über die Desintegration und Diversifizierung des europäischen Musikdenkens und Musikmachens zählt zu den aussagekräftigen Beiträgen des Bandes. Hier verfolgt man durch eine facettenreiche Darstellung die Entstehung des modernen historischen Denkens. Peter Rummenhöllers Artikel dagegen ist auf Ausdrücke von „Empfindsamkeit“ im 18. Jahrhundert, u. a. in der Musik von Carl Philip Emmanuel Bach, fokussiert.
Michael Polth untersucht in seinem Artikel über Dodekaphonie und Serialismus auf interessante Weise die Musik des 20. Jahrhunderts. Polth widerspricht der Vorstellung, dass Zwölftontechnik und Serialismus die Komposition bestimmen. Sie seien nur technische Verfahren „beinahe so vielfältig [...] wie die Kompositionen selbst“ (S. 423). Die Beziehung zwischen Zwölftöntechnik und Tonalität kennzeichne eins der wichtigsten Themen des vorherigen Jahrhunderts. Statt die traditionelle Tonalität zu ersetzen, wie sich die Komponisten der Wiener Schule erhofften, habe die Reihentechnik das Feld der Tonalität erweitert. Im Serialismus bezieht sich das Prinzip der Reihen nicht nur auf die Tonhöhe, sondern organisiert auch andere Parameter der Komposition. Das Denken von Pierre Boulez und Stockhausen werden als Beispiele der seriellen Strukturierung des Materials einander gegenübergestellt. Als Fazit weist Polth auf den Mangel an Funktionalität des Serialismus; damit lasse sich „keine immanente Systematik“ erzeugen.
Martha Berch fasst das weite Feld der Elektroakustischen Musik mit den Kategorien der Mikrointervalle und Permutationen zusammen. Es geht um Verbindungen zwischen Musik und Naturwissenschaft. Hier entsteht der Versuch, unterschiedliche ästhetische Ansätze unten einen Hut zu bringen – z. B. den Minimalismus von Terry Riley, die algorithmische Musik von Iannis Xenakis und die spektrale Musik von Gérard Grisey. Das ist sicher möglich. Es hat den Vorteil, einen Überblick zu schaffen, reduziert aber andererseits die ästhetische Vielfalt. So wirkt z. B. die zusammenfassende Aussage, dass die Komponisten „Naturwissenschaft mit wahrnehmungsorientierten oder traditionellen Größen der Musik koordinierten“ (S. 460) als nichtssagende. Gibt es so was wie traditionelle Größen? Was für Werte sind das?
Dass Komponisten eigene Systeme entwerfen, gibt es schon vor dem 20. Jahrhundert. Aber seit Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) wird individuelle Theoriebildung als Grundlage des Schaffens bewusster. Darum geht es im Beitrag von Andreas Holzer. Er untersucht die Theorie von Paul Hindemith, die von Adorno als ein „Konformismus mit den bösen Zeitläufen“ bezeichnet wurde, und vor allem die modale und serielle orientierte Technique de mon langage musical von Olivier Messiaen. Andere Systeme, wie von Nancarrow, Grisey, Xenakis usw. werden nur erwähnt. Schade!
Im letzten Kapitel beschäftigt sich Annegret Huber mit Diether de la Mottes Beitrag zum Musikunterricht, mit seinen Büchern Musikalische Analyse, Harmonielehre und Kontrapunkt. Anschließend meldet sich Diether de la Motte mit dem Artikel „Theorie – Lehre, Wagnis Analyse“ selber zu Wort. Es ist mir nicht klar geworden, warum diese Beiträge ins Handbuch aufgenommen wurden.
Zusammenfassend: Musiktheorie – der zweite Band des Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft – bietet verschiedene Perspektiven für ein historisches und zeitgenössisches Verständnis der Beziehung zwischen Musik und Theorie. Die Literaturhinweise am Ende des Buches sind umfangreich. Außerdem dienen die Personen- und Sachregister und die Information über die Autoren dazu, einen eigenen Parcours durch die Beiträge zu finden. Natürlich kann man nicht in knapp 500 Seiten alles bringen. Man erkennt die Mühe der Herausgeber, dem Mainstream der Musiktheorie gerecht zu werden, aber ich konstatiere hier eine gewisse Enge, die schon im ersten Band (Musikästhetik) zu bedauern war.
Sicher ist das Handbuch auf deutsche Hochschulen und ein deutsches Fachpublikum zugeschnitten, aber es schadet nicht, wenn man den Blick erweitert und anderswohin schaut, wo nicht unbedingt Vertrautes zu finden ist. Musiktheorie bietet viel Solides, vor allem in historischer Hinsicht, aber die Blickwinkel wirken teilweise willkürlich. Und es entsteht der Eindruck, dass man nicht wagt, Neuland zu betreten.

Paulo C. Chagas
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 437ff.

 

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