Ulrich Konrad: Wolfgang Amadé Mozart. Leben – Musik – Werkbestand

Konrad, Ulrich: Wolfgang Amadé Mozart. Leben – Musik – Werkbestand – Kassel: Bärenreiter, 2005. – 486 S.: Tabellen, Ill., Notenbeisp.
ISBN 3-7618-1821-1 : € 34,95 (geb.)

Die Vielzahl der Publikationen zum 250. Geburtstag Mozarts zeigt wieder einmal mehr, dass selbst ein scheinbar längst erschöpftes Thema den Drang der Musikgelehrten und -schriftsteller nicht zur Ruhe bringt. Trägt doch jeder Forschungsertrag den Stempel der eigenen Zeitgebundenheit, relativiert sich alles scheinbar Letztgültige im Kontinuum des Vergangenen und unkalkulierbar Kommenden. In diesem Bewusstsein vertraut auch der hoch renommierte Mozart-Forscher Ulrich Konrad seine groß angelegte Aufarbeitung von Mozarts Leben, Musik und Werkbestand der Öffentlichkeit an. Dabei ist dieses Element des Selbstreflexiven und Hinterfragens nur eines unter mehreren Kriterien, die Konrads Buch einen kaum zu bezweifelnden Ausnahmerang verleihen: einen vorderen, wenn nicht den vordersten Platz unter den greifbaren Überblickswerken zu Vita und Schaffen Wolfgang Amadeus Mozarts.
Sein Charakter eines Maximal-Kompendiums rührt nicht zuletzt von seinem Ursprung in Konrads MGG-Artikel, der geradezu komplett und wenig verändert übernommen und um historiographische Erweiterungen vor allem im biographischen Teil sowie um wesentliche Vergleichsmomente im Werkanalytischen bereichert wurde. Auf MGG-Usancen beruht auch die dreiteilige Anlage. Deren Sektion „Werkbestand“ hat Bärenreiter zusätzlich separat unter dem Titel „Mozart-Werkverzeichnis“ herausgebracht (s. die folgende Rezension). Grundsätzlich distanziert sich Konrad von dem Anspruch, mit im Wortsinn „Neuem“ aufzuwarten.
Sein erklärter Weg ist die Arbeit am reichen Reservoir der Primärquellen, verbunden mit der Sichtung und Auswertung des breit gestreuten, schwer diversifizierbaren Materials zum Thema Mozart; sein Ziel: die umfassende und zuverlässige Information, eine Quintessenz des aktuellen Forschungsstands.
In Teil I „Leben“ bändigt eine chronologische Systematik die schier überbordend aufgebotene Detailfülle zu einem überschaubaren Panorama. Fakten, Daten, Namen, Zitate paradieren in hoch konzentrierter Verdichtung und Komprimierung, erscheinen dabei fasslich und wohlgeordnet.
Und in Sachen Kontextualisierung, dem längst axiomatischen Prinzip des musikwissenschaftlichen Arbeitens, bleibt keine themenrelevante Facette außen vor: Soziologisches (z. B. Mozarts Spagat zwischen subalternem Bedienstetenstatus im feudal-absolutistischen Gesellschaftssystem einerseits und Assimilierungstendenz als selbstbewusster Ausnahmekünstler an Statussymbolen aristokratischer Auftraggeber andererseits), Zeitgeschichtlich-Politisches, Ideologisches (etwa zum Verhältnis von Mozarts Katholizismus vs. Freimaurertum oder spezifische Ausformungen aufklärerischen Denkens in den Da-Ponte-Opern), Sozial-, Kultur- oder individuell Psychologisches (wie Lebensphasen und -krisen, etwa bei Umstellung vom abgestreiften Wunderkind-Bonus auf die rigide Konkurrenzsituation im italienischen Opernbetrieb, Verhältnis zum Vater), auch Musikalisch-Stilistisches in Korrespondenz zum Werdegang.
Legenden und Klischees, wie sie sich etwa betreffs Mozarts Verarmung, seiner Ehe oder der „Requiem“-Entstehung zu Pseudo-Tatsachen verfestigt haben, werden anhand aller verfügbaren Quellen und zulässigen Schlussfolgerungen in ein realistischeres Licht gerückt. Überhaupt unterscheidet Konrad seismographisch exakt zwischen gesicherten, ungesicherten, mutmaßlichen, hypothetischen oder potenziellen Tatbeständen.
Subtil mündet Teil I in ein Kapitel über äußere Erscheinung und Persönlichkeit des insgesamt mental in der Aufklärung verhafteten, wechselhaften, letztlich rätselhaft bleibenden Charakters.
Teil II „Musik“ beleuchtet in zwei Großkapiteln Grundzüge sowie Periodisierung, Stil und Wirkung. Ausgehend von Mozarts rezeptivem und produktivem Eklektizismus, der auf einem seinerzeit unvergleichlichen Musikwissen beruhte und adaptierte Einflüsse zu einer hoch individualisierten Synthese verband, skizziert Konrad Mozarts Intention eines Schreibens für Kenner und Nichtkenner, die Durchdringung musikalischer Ingredienzen von Konzert, Oper und Kammermusik, ihren Zuwachs an Komplexität und Variabilität sowie die divergierenden, weil pragmatisch bestimmten historischen Funktionen und Orte von Mozarts Werken, deren Rekontextualisierung laut Konrad gerade unserer heutiges Mozart-Verstehen wesentlich fördere. Philologisch-antimythologisch kommt Klärendes zu Mozarts Schaffensweise daher. Innerhalb der analytischen Studien zu Satzformen und Werkzyklus (Arie, Sonate, Rondo, Lied- und Tanzformen) sowie den Elementen des Tonsatzes imponiert Konrads Fähigkeit einer Transzendierung von Fallbeispielen auf das große Ganze. Und zum Status quo im Gedenkjahr konstatiert Konrad, dass und inwieweit Überlieferungsgröße, Rezeptionsgröße und ästhetische Größe von Mozarts Oeuvre weiterhin differieren. Vollends qualifizieren eine exzellent arrangierte Bibliographie sowie Register zu Personen, Orten und Werken das Konradsche Mozart-Kombipack zu einem Standardwerk sui generis.

Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 420ff.

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Mozart, Wolfgang Amadé (1756-1791), Rezension abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.