Julia Spinola: Die großen Dirigenten unserer Zeit

Spinola, Julia: Die großen Dirigenten unserer Zeit. Mit ausführlichem Lexikonteil. – Berlin: Henschel, 2005. – 287 S.: 30 Schwarzweißfotografien. –
ISBN 3-89487-480-5 : € 24,90

Aktuelle Nachschlagewerke, in denen man sich über lebende Künstler informieren kann, sind äußerst notwendig, aber auch – kaum erschienen – bereits am nächsten Tag veraltet. Nur das Internet könnte als gleichsam globales Lexikon die neuesten Entwicklungen rasch dokumentieren – aber auch nur, wenn die dort bereitgestellten Angaben laufend gepflegt werden.
Die Musikkritikerin der FAZ widmete sich mit den „großen Dirigenten“ einer besonderen Spezies des musikalischen Lebens, und beim Überfliegen der Liste, die durchaus viele berühmte Persönlichkeiten aufweist, wird eines schnell klar: Die Kultfiguren vergangener Zeiten gibt es im Grunde nicht mehr. Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Arturo Toscanini, Georg Solti, Herbert von Karajan u. v. a. m. – das sind alles Namen, deren Klang allein eine ferne, fast mythisch entrückte Welt beschwor. Heute nehmen u. a. Claudio Abbado, Kent Nagano, Roger Norrington, Simon Rattle oder Christian Thielemann die angesehensten Führungspositionen in der Welt der klassischen Musik ein, doch erscheinen sie weniger als sagenumwobene Lichtgestalten, sondern vielmehr als professionelle Größen, deren außergewöhnliche Fähigkeiten zwar höchste interpretatorische Qualität garantieren und dadurch größte Achtung abnötigen, deren herausgehobene Stellung aber längst „säkularer“ geworden ist.
Dreißig ausgewählte Dirigenten unserer Zeit werden zunächst in ca. fünf- bis siebenseitigen, spannend geschriebenen und informativen Essays vorgestellt, ihre Biographien skizziert und Arbeitstechniken sowie ihre besonderen Interessensgebiete umrissen. Aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen leitete Spinola eine „Interpretentypologie“ her und fasste danach die Künstler in acht Kapiteln zusammen: „Formanalytiker und Formdramatiker“ (Cl. Abbado, M. Gielen, L. Zagrosek, K. Nagano, R. Muti), „Klanganalytiker und Klangmagier“ (P. Boulez, Chr. von Dohnány, S. Ozawa, H. Blomstedt, R. Chailly) oder „Energetiker und Verführer“ (D. Barenboim, Z. Mehta, Chr. Thielemann, V. Gergiev) lauten beispielsweise solche Kategorien. Der getroffenen Auswahl wird man zunächst nicht widersprechen, doch „Detailbesessen“ (so eine weitere Gruppierung) ist keineswegs nur die Eigenart weniger. Mit Sian Edwards und Simone Young werden in einem weiteren Kapitel zwei Dirigentinnen vorgestellt, die sich in dem immer noch patriarchalisch geprägten Berufsstand weitgehend durchgesetzt haben; der dafür gewählte Titel, „Frauen erobern das Pult“, erscheint leider etwas euphemistisch – den Tatsachen würde „Frauen beginnen das Pult zu erobern“ besser entsprechen.
Im anschließenden Lexikonteil werden hundert weitere Persönlichkeiten in kurzen Artikeln vorgestellt, die neben der Würdigung noch eine kurze Diskographie enthalten (für die zuvor ausführlich gewürdigten Dirigenten wird sie hier nachgeliefert). Die jetzt auftauchenden Namen zeigen, wie subjektiv längere und kürzere Beiträge verteilt sind, wobei es eine „richtige“ Auswahl natürlich nie geben wird: Lorin Maazel oder André Previn könnten mit dem gleichen Recht einen „Hauptbeitrag“ beanspruchen wie Bernhard Haitink oder Kurt Masur. So muss sich die Autorin mindestens die Frage gefallen lassen, warum das Buch überhaupt so konzipiert worden ist, und warum sie nicht lieber die Dirigentinnen mit einem umfassenden Kapitel bedacht und ihnen dadurch eine größere Aufmerksamkeit garantiert hat.
Diese grundsätzlichen Erwägungen dürfen aber nicht den Blick auf den unbestrittenen Wert eines solchen Titels verstellen. Manche Recherche müsste sonst unbeantwortet bleiben, und für den Auskunftsbestand kann man das Buch deshalb mit gutem Gewissen allemal empfehlen.

Georg Günther
Zuerst veröffentlicht in FM 26 (2005), S. 234f.

 

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