Anke Steinbeck: Jenseits vom Mythos Maestro. Dirigentinnen für das 21. Jahrhundert

Steinbeck, Anke: Jenseits vom Mythos Maestro. Dirigentinnen für das 21. Jahrhundert. – Köln: Dohr, 2010. – 220 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-936655-74-2 : € 27,80

Kennen Sie das Gefühl? – Sie sitzen im Konzertsaal und applaudieren dem Maestro, der mit dem Taktstock in der Hand auf das Dirigentenpult zusteuert, und plötzlich durchzuckt es Sie: „Ups, der Dirigent ist eine Frau…“ Wenn wir ehrlich sind, ertappen wir uns doch auch in emanzipierten Zeiten noch bei solchen unbewussten Reaktionen, auch wenn auf die Überraschung sofort die Freude folgt. Immer noch hält uns der ‚Mythos Maestro‘ gefangen. Glücklicherweise ist es nicht mehr ganz so ungewöhnlich, dass auch Frauen große Orchester dirigieren, aber Dirigentinnen wie Simone Young und Marin Alsop mussten für die Anerkennung des Publikums sehr viel Durchhaltevermögen aufweisen. Immer mehr junge Frauen besuchen die Hochschulen mit dem Ziel, Dirigentin werden zu wollen, was bedeutet, dass sich die einst so männerdominierte Orchesterwelt strukturell ändert und neue Perspektiven sich aufzeigen.
Wir bewegen uns heute schon „Jenseits vom Mythos Maestro“, auch wenn noch nicht alle Musikliebhaber diesen Umstand verinnerlicht haben. Anke Steinbeck schaut zurück und beschreibt in ihrem Buch, das 2009 als Dissertation angenommen wurde, die Entwicklungsgeschichte des Strukturwandels in der Orchesterwelt mit kritischem Blick. Dementsprechend wissenschaftlich ist der Ansatz, was jedoch nicht bedeutet, dass der Leser sich durch langweilige empirische Erhebungen zu kämpfen hat, im Gegenteil: ihr Stil ist kurzweilig, aber fundiert.
Sie schildert die Wege der Frauen in der Musikgeschichte, die sich als Sängerinnen, Instrumentalistinnen und sogar vereinzelt als Dirigentinnen ab dem 18. Jahrhundert etablieren konnten. Der Emanzipation in den 1970er Jahren ist ein ganzes Kapitel gewidmet, das die Grundlage bildet für die folgenden Kapitel, in denen sie die Dirigentinnen der Gegenwart und deren Chancen durch einen neuen Feminismus beschreibt. Auch die Medien, die insbesondere im Hinblick auf den Dirigentenberuf eine nicht unbedeutende Rolle spielen, nimmt sie in den Blick.
Im letzten Kapitel kommt sie dann doch, die empirische Untersuchung: Orchestermusiker wurden befragt über die Sonderrolle von Dirigentinnen im Alltag. Das Ergebnis verwundert nicht wirklich: Sie stehen Frauen am Dirigentenpult positiv gegenüber; weder fachliche Kompetenz noch Führungskraft werden bemängelt, aber: Vorbehalte gibt es dennoch, die offensichtlich nur durch den oben geschilderten Gewohnheitsfaktor erklärt werden können.
Zusätzlich zu einem ausführlichen Quellenverzeichnis enthält das Buch einen Anhang mit Interviews, dem Erhebungsbogen und einem Register. Anke Steinbeck hat eine sorgfältig gearbeitete wissenschaftliche Arbeit vorgelegt, die nicht nur für Musiker interessant sein dürfte; sie beschäftigt mit dem gesellschaftlichen Dauerbrennerthema der benachteiligten Frauen in der Berufswelt. Insofern ein wichtiges Buch, das ein kleiner Baustein sein kann, die Gesellschaft hinsichtlich der veränderten Struktur von Frauen im Beruf wachzurütteln.

Barbara Wolf
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 281f.

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