Göttinger Wissenschaftler entdecken die Gesetzmäßigkeiten rhythmischer Fluktuationen in menschlichen Musikdarbietungen

Der Mensch mag es nicht allzu perfekt. Weil kein Musiker absolut exakte Rhythmen spielt, werden häufig auch elektronisch generierte, fehlerfreie Rhythmen im Tonstudio nachträglich „vermenschlicht“, damit sie natürlicher klingen: Nach dem Zufallsprinzip wird hierfür jeder Schlag zeitlich minimal verschoben – ohne dass dieses Vorgehen je hinterfragt wurde. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, von der Universität Göttingen und dem Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen haben nun herausgefunden, dass diese als „Humanizing“ bekannte Methode nicht die statistischen Gesetzmäßigkeiten natürlicher Musik widerspiegelt. Denn die kleinen Abweichungen vom perfekten Rhythmus, die auch geübten Schlagzeugern unterlaufen, sind nicht rein zufällig, sondern über längere Zeiten statistisch voneinander abhängig. Musik, die nach diesen Gesetzen produziert wurde, empfanden die meisten Menschen wohlklingender als solche mit rein zufällig verschobenen Rhythmen. Für ihre neue Methode erhielten die Göttinger Wissenschaftler ein US-Patent.
Selbst der professionellste Drummer macht Fehler. Vergleicht man seine Schläge mit denen eines elektronischen Metronoms, finden sich bei jedem Schlag Abweichungen. Diese liegen zwar nur im Bereich weniger Millisekunden, jedoch behaupten viele Musikliebhaber, dass sie den Unterschied nicht nur hören können, sondern auch besonders schätzen. Denn erst diese menschliche Note verleihe der Musik ihren Charakter. In vielen Tonstudios werden daher künstlich generierte Rhythmen nachträglich verändert: Jeder Schlag wird per Zufallsgenerator minimal verschoben, ein Verfahren, das als „Humanizing“ (Vermenschlichung) bezeichnet wird.
Obwohl dieses Verfahren weit verbreitet ist, war die genaue Natur menschlicher Fehler in komplexen Musikrhythmen bislang völlig unbekannt. So wurde beispielsweise nie hinterfragt, welchen statistischen Gesetzmäßigkeiten die rhythmischen Abweichungen in natürlicher Musik folgen. In ihrer neuen Studie haben die Göttinger Forscher diese Abweichungen nun genau untersucht. In den einfachsten Versuchen gaben die Forscher ihren Testpersonen den fehlerfreien Schlag eines elektronischen Metronoms über Kopfhörer vor. Diesen sollten sie durch Singen oder Trommeln möglichst exakt wiedergeben. „Wir wollten ganz sicher sein, dass unsere Ergebnisse nicht von der Art und Weise abhängen, wie die Versuchspersonen den Rhythmus generieren – also etwa, ob mit der Hand oder mit der Stimme“, erklärt Holger Hennig vom Max-Planck-Institut das Vorgehen. Zudem achteten die Forscher darauf, dass sowohl musikalische Laien als auch professionelle Drummer an der Studie teilnahmen. In einem zweiten Schritt wandte sich das Team aus Physikern und Psychologen dann komplexen Rhythmen zu, bei denen die Drummer beispielsweise Hände und Füße einsetzen. Auch diese Rhythmen sollten die Versuchspersonen wiedergeben.
„Unsere Versuche haben gezeigt, dass die rhythmischen Schwankungen keineswegs rein zufällig sind“, sagt Theo Geisel, Max-Planck-Direktor und Professor für Theoretische Physik an der Universität Göttingen. Der Wissenschaftler ist selbst Saxophonist und hat gemeinsam mit seinen Doktoranden eine Jazzband aufgebaut. „Stattdessen zeigen die Abweichungen zwischen perfektem und menschlichem Rhythmus statistische Abhängigkeiten – nicht nur von einem Schlag auf den nächsten, sondern für fast beliebig lange Zeiten.“ Eine kleine Abweichung z.B. zu Beginn eines Stücks nimmt Einfluss auf die Abweichungen, die noch nach vielen Sekunden auftreten. „Es ist, als habe der Mensch eine Art von Gedächtnis für diese Fehler“, beschreibt Hennig. Physiker sprechen von langreichweitigen Korrelationen.
Bei ungeübten Laien allerdings, die häufig aus dem Takt kommen, fehlen solche Korrelationen völlig. „Dies könnte darauf hindeuten, dass die neuronalen Prozesse, die im Gehirn für Zeitintervalle und für das zeitliche Koordinieren von Bewegungen zuständig sind, bei solchen Personen nach jedem Wiedereinstieg in den Rhythmus erneut gestartet werden“, erklärt Geisel. Bei den fortgeschritteneren Musikern gibt es im Gehirn stattdessen eine Art „Gedächtnis“ für diese Prozesse.
„Im zweiten Teil unserer Studie kam uns die Idee, elektronisch erzeugte Musik gezielt nach diesem neu gefundenen Gesetz zu ,vermenschlichen‘ “, erklärt Hennig. „Wir wollten herausfinden, ob Zuhörer den Unterschied zu rein zufällig verschoben Rhythmen wahrnehmen können und welche Art der „Vermenschlichung“ sie bevorzugen“, ergänzt Ragnar Fleischmann, ebenfalls Wissenschaftler am Max-Planck-Institut.
Zu diesem Zweck produzierten die Forscher in Zusammenarbeit mit einem professionellen Tonstudio einen Popsong. Die aufgenommenen Rhythmen der verschiedenen Instrumente wurden zunächst auf das exakte Schlagmuster korrigiert, bevor sie dann gezielt auf zwei Weisen „vermenschlicht“ wurden: entweder rein zufällig oder mit langreichweitigen Korrelationen. Beide Varianten spielte das Team aus Physikern und Psychologen 39 Mitgliedern Göttinger Chöre vor, die dann beide Versionen bewerten sollten.
„Den Unterschied zwischen beiden Version zu erkennen, ist keine einfache Aufgabe“, stellt Anneke Fredebohm vom Institut für Psychologie der Universität Göttingen fest. Absolute Laien können beide Varianten oftmals gar nicht auseinander halten. Doch genaue statistische Auswertungen zeigten, dass erfahrene Musikhörer die Version mit den langreichweitigen Korrelationen nicht nur als deutlich angenehmer empfinden. Die Testpersonen waren auch davon überzeugt, in dieser Version den präziseren Rhythmus erkannt zu haben.
„Insgesamt spricht vieles dafür, die herkömmliche Methode des „Humanizing“, mit der Musik „vermenschlicht“ wird, zu überdenken“, so Geisel. Doch die Ergebnisse haben aus der Sicht der Forscher auch eine Bedeutung jenseits der Musikindustrie. „Bisher ist noch völlig im Dunkeln, wie es dem Menschen gelingt, bestimmte motorische Abläufe im Bereich weniger Millisekunden zeitlich exakt zu koordinieren“, erklären die Wissenschaftler. Die neuronalen Vorgänge im Gehirn, die dies ermöglichen, seien noch weitestgehend unbekannt. Hier könnte die neue Studie wertvolle Hinweise liefern.
Weiteres: http://idw-online.de/de/news448169

idw, 27.10.2011

 

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