Woldemar Bargiel: Reisetagebuch vom Sommer 1852. „An den Rhein und weiter“. Zu Besuch bei Robert und Clara Schumann [Peter Sühring]

Woldemar Bargiel: Reisetagebuch vom Sommer 1852. „An den Rhein und weiter“. Zu Besuch bei Robert und Clara Schumann / Hrsg. von Elisabeth Schmiedel und Joachim Draheim – Sinzig: Studio, 2011. – 114 S.: Abb. (Schumann-Studien ; Sonderband 6)
ISBN 978-3-89564-134-3 : € 21,50 (geb.)

Ein sehr lehrreiches und vergnügliches Buch. Denn die hier tagebuchartig dokumentierte Reise, die der junge Musiker Woldemar Bargiel (1828–1897) im Alter von 24 Jahren von Berlin aus, wo er als Klavierlehrer sein Dasein fristen musste, nach Düsseldorf ins Haus der Familie Schumann unternahm, gewährt vielfältige und tiefe Einblicke in die musikalische und allgemeine Kultur um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wer wissen will, wie damals eine Eisenbahnfahrt von Berlin durch Preußen (also durch die Mark Brandenburg, Niedersachsen, Westfalen in die Rheinprovinz) ablief oder eine Rheinreise von Düsseldorf nach Koblenz oder eine Dampfschifffahrt auf dem Niederrhein bis an die niederländische Atlantikküste, der wird hier fündig. Der neun Jahre jüngere Halbbruder von Clara Schumann, geborener Wieck, der mit ihr die gleiche Mutter hatte, jene Mariane Bargiel, die nach ihrer Ehe mit dem Klavierpädagogen Friedrich Wieck sich erneut und zwar nach Berlin hin verheiratet hatte, konnte gerade ein Streichoktett und ein Klaviertrio mit Hilfe seines (Halb)Schwagers Robert Schumann veröffentlichen und wurde daraufhin eingeladen, sich im Hause Schumann Belehrungen über bestimmte Schwächen dieser Kompositionen abzuholen.
Interessant an diesem Buch sind neben den unspektakulären Einblicken in das auch dort inzwischen relativ schnöde und alltäglich gewordene Ehe- und Familienleben der Schumanns und den Berichten über das gemeinsame Musizieren und die musikalischen Anschauungen auch Bargiels Berichte über ein in diesem Zeitraum stattfindendes viertägiges Männergesangsfest (das bis in den Ablauf der Proben hinein geschildert wird), in denen er Abneigungen eines nach Höherem strebenden Beethoven-Jüngers gegen die Popularkultur seine Zeit wiedergibt. Die vielfältigen Kategorien des vereinsmäßigen Männergesangs dieser Zeit und die Art, wie die Darbietungen mit sinfonischen Aufführungen in der Tonhalle zu Düsseldorf verknüpft waren, zeigen einerseits in der Reaktion Bargiels eine typisch deutsche Trennung, aber auch die andererseits praktisch (noch) vorhandene Verbundenheit der beiden musikalischen Sphären von Ernst und Unterhaltung. Man erlebt den unter seiner Nervenkrankheit leidenden und gegen sie ankämpfenden Robert Schumann bei der Einstudierung seiner Ouvertüre zu Shakespeares Julius Caesar und die wegen der gefährlichen Stimmungen ihres Mannes verzweifelte Clara Schumann bei der Exekution des Es-Dur-Klavierkonzerts Beethovens, umringt von Gesangsvereinen aus Kleinstädtern und Studenten und viel Volk aus allen Gesellschaftsschichten.
Wie es im Kölner Dom aussah als er noch im Bau war, wie die mittelrheinische Ebene mit ihren Idyllen sich damals ausnahm, kann man von dem spazier- und reisefreudigen Bargiel, der mit offenen Augen durch die Welt ging und bereit war, seine Beobachtungen aufzuschreiben, erfahren. Die Schilderung der nächtlichen Dampfschifffahrt zu einer medizinischen empfohlenen, aber nur widerstrebend unternommenen Badekur für Robert Schumann nach Scheveningen könnte aus einem Abenteuerroman der Jahrhundertmitte stammen, und überhaupt kann man hier erfahren, dass und wie damals schon (und noch!) im Rhein bei Düsseldorf gebadet werden konnte. Sogar eine Abbildung der Badehäuser unter freiem Himmel und viele andere gezeichnete Szenen aus Bargiels Notizheft sind hier abgebildet. Auch in musikalischer Hinsicht interessante Phänomene wie das weit verbreitete häusliche Musizieren und die Tatsache, dass man auch schon damals Klavierlieder für Männerstimmen gerne in anderen Stimmlagen sang (so, wenn berichtet wird, ein Frl. Schloß habe Ich grolle nicht des liebenden Dichters gesungen), die Geschmacksurteile über Chopin und diverse andere, heute vergessene Komponisten, sind hier nachzulesen. Wer also zu den vorhandenen öffentlichen Berichten in Zeitungen und zu den bisher veröffentlichten Briefen eine intime Nahaufnahme und Innenansicht der musikalischen Verhältnisse aus den späten Jahren Robert Schumanns erlangen möchte, ist hier bei dem Tagebuch Bargiels (das sich anderen privaten musikalischen Reiseberichten, beispielsweise denen Leopold Mozarts, durchaus an die Seite stellen lässt) gut bedient.
Das 72-seitige handschriftliche Tagebuch Bargiels, das hier das eigentliche Buch bildet, ist gediegen aufbereitet, wobei die Herausgeber die von ihnen angefertigte Verpackung vielleicht etwas zu wichtig nehmen – womit allerdings nicht das instruktive Vorwort und das qualifizierte Personen- und Werkregister gemeint sind, sondern die Tatsache, dass der eigentliche Autor des Buches (wegen seines immer noch mangelnden Bekanntheitsgrades?) äußerlich fast verschwindet, weswegen sich der Rezensent auch erlaubt hat, ihn im Kopf dieser Besprechung hervorzuheben.

Peter Sühring
Berlin, 18.11.2011

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