Franz Schrekers Töchter und Söhne

Schreker UdKBerlinWohin geht der Flug? Zur Jugend“. Franz Schreker und seine Schüler in Berlin / Hrsg. von Markus Böggemann und Dietmar Schenk – Hildesheim: Olms, 2009. – 162 S.: Notenbsp., Abb. (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ; 54)
ISBN 978-3-487-14214-2 : € 29,80 (kart.)

Rhode-Jüchtern, Anna-Christine: Schrekers ungleiche Töchter. Grete von Zieritz und Charlotte Schlesinger in NS-Zeit und Exil. – Sinzig: Studio, 2008. – 455 S.: No­tenbsp., Abb. (Berliner Musik Studien ; 30)
ISBN 978-3-89564-127-5 : € 42,00 (kart.)

Der aus einer Tagung zum 125. Geburtstag Schrekers (1878–1934) hervorgegangene Sammelband gibt in mehreren Fallstudien einen differenzierten Einblick in die Viel­falt dessen, was einmal musikalische Moderne in Deutschland war. Sie wurde in ihrer ganzen Breite von den Nationalsozialisten zerstört und verjagt, nach 1945 konnte aber nur ein geringer Teil sich wieder in Erinnerung rufen und an frühere Aktivitäten an­knüpfen. Wer nicht zur selbsternannten oder propagierten Avantgarde gehörte, sprich: wer nicht seriell komponierte, hatte im Nachkriegsdeutschland keine Lobby. Es gehört zu den seltsamen und bedrückenden Erfahrungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte, dass in tendenziöser Weise ein großer Teil der kompositorischen Experimente aus der Zeit vor 1933 dem von den Nazis erzwungenen Vergessen anheim gestellt blieben. Auch das Werk Franz Schrekers unterlag bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die­sem Schicksal. Und ganz besonders (und eigentlich bis heute) sein so genanntes Spät­werk, also jene Opern, die er nach seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1920 bis zu seinem Tod 1934 schrieb. Die Gründe dafür beschreibt Christopher Hailey. Schreker stand für das Undeutsche, das Unmännliche und das Jüdisch-Kosmopolitische. Auch das Schaffen der meisten seiner Schüler bleibt eine verborgene Tradition. Eigentlich konnte nur der Schreker-Schüler Berthold Goldschmidt von England aus noch einmal eine späte Wiederentdeckung erleben.

Es ist das große Verdienst dieses Bandes, speziell die von Schreker und seinen (männlichen) Schülern in den zwanziger Jahren komponierten Werke in den Brenn­punkt der Berichte und Analysen zu stellen. Schreker wurde unter sozialdemokra­tischer Ägide an die Berliner Musikhochschule als deren Direktor berufen (Dietmar Schenk beschreibt Schrekers Dilemma zwischen Kunst und Amt) und leitete dort zwölf Jahre lang eine Kompositionsklasse. Seine in dieser Zeit entstandenen Opern (Irrelohe, Der singende Teufel, Christophorus – ihr widmet Eric Denut eine monogra­phische Studie – und Der Schmied von Gent) werden von Frank Harders-Wuthenow zwar als Ergebnisse einer künstlerischen Krise beschrieben, welche aber durchaus voll­gültige Werke hervorgebracht hat. Wie Schreker es ausdrückte, ging der Flug der Zeit „zur Jugend“, und es war das besondere Kennzeichen seines Unterrichts, dass er kei­ne Epigonen heranzüchten, sondern die Individualität seiner Schüler fördern wollte, zumal er sich seiner eigenen Kunstauffassung aus der Zeit seiner früheren großen Er­folge nicht mehr so sicher war und den Umbruch in der Musikauffassung spürte und produktiv aufgriff.
Michael Heinemann erklärt den Erfolg der Zeitoper Maschinist Hopkins von Max Brand. Barbara Busch widmet Goldschmidts Oper Der gewaltige Hahnrei eine litera­risch-musikalische Analyse, Christoph Henzel konzentriert sich auf Herbert Windts Kammersinfonie mit Gesang Andante religioso von 1921, die er vor seinem Bruch mit Schreker komponierte – der gleiche Mensch übrigens, der später die Filmmusiken zu den Propagandaschinken der Riefenstahl lieferte. Weitere Beiträge befassen sich mit den Schreker-Schülern Felix Petyrek und Ignace Strasfogel (Kolja Lessing), mit den Afrika-Songs von Wilhelm Grosz (Daniel Ramseier) und mit Friedrich Wilckens Werk samt Werkverzeichnis (Matthias Henke).

Schlesinger_ZieritzMan braucht ziemlich lange, bis man den Vorteil des historiographischen Tricks oder Erkenntniskniffs erkennt, den Rohde-Jüchtern anwendet, indem sie das Leben der völlig vergessenen und bisher unerforschten Musikpädagogin und Komponis­tin Charlotte Schlesinger (1909–1976) mit jenem der gut dokumentierten und mehr­fach dargestellten Grete von Zieritz (1899–2001) zu einer Doppelbiographie verknüpft. Denn dass hier Unvergleichbares sinnvoll verglichen oder vielmehr miteinander kon­frontiert wird, ist gerade der Witz dieser gemeinsamen Erzählung zweier denkbar un­gleicher Leben: Das Leben einer im geistesaristokratischen deutschnationalen Milieu erzogenen österreichischen Obristentochter wird dem Leben einer linksliberalen jü­dischen Komponistin gegenübergestellt, die daran gehindert wurde, das Ziel ihres Lebens und ihrer Begabung zu erreichen. Vielleicht drängt sich in diesem Buch das reich überlieferte Leben und Schaffen der 1899 geborenen Dame aus „gutem“ Hau­se, die zwar ihrer künstlerischen Kreativität wegen nicht gerade dem Ideal des pas­siven Weibchens, das in den reaktionären Kreisen gepflegt wurde, entsprach, unver­meidbar immer wieder etwas zu stark hervor gegen die nur schwer und doch dank der Hartnäckigkeit der Autorin wenigstens in Umrissen und wichtigen Stationen rekons­truierbare Existenz der vertriebenen, zehn Jahre jüngeren anderen Frau. Um die Wie­derentdeckung der Letzteren aber geht es eigentlich. Die Reibung am stetigen, wenn auch nicht übermäßigen und mit viel Anpassung erkauften Erfolg der einen erhellt das Schicksal der anderen umso eindringlicher. Ob es aber letztlich nötig war, der schließ­lich ins Exil nach Kiew und in die USA getriebenen Charlotte Schlesinger ständig und ausgiebig die Zieritz gegenüberzustellen, lässt sich bezweifeln. Dennoch fällt allein da­durch erstmals auch ein anderes, kritischeres Licht auf die Laufbahn der Zieritz, für deren treue Dienste die Reichsmusikkammer sich zu bedanken wusste. Was für die adlige Dame nur Kontinuität bedeutete, war für die Schlesinger der entscheidende Bruch in ihrem Leben: das Jahr 1933 und die Machtübergabe an die Nazis.
Ausgehend von einer episodischen Begegnung in der Kompositionsklasse Schre­kers und zweier Berliner Konzerte, in denen beide Komponistinnen zu hören waren, werden die beiden nebeneinander herlaufenden und nach kurzer Berührung schnell wieder auseinanderdriftenden Lebenslinien der beiden Protagonistinnen erzählt als ein Lehrstück weiblicher Existenz im Musikleben des 20. Jahrhunderts, das den Cha­rakter eines Paradebeispiels gewinnen und in vielen deutschen Musikbibliotheken zu finden sein sollte.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 59-61

 

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