Wolfgang Zechner: Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs [Andreas Vollberg]

Wolfgang Zechner: Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs (1956–1999) – Höfen: Hannibal, 2025. – 324 S.
ISBN 978-3-85445-798-5 : € 25,00 (kart.; auch als eBook)

Bis Deutsch im Pop emanzipiert neben Zungenschlägen aus globaler Herren Länder stand, brauchte es fast ein halbes Jahrhundert, und das sogar bis zur Schwelle des Internetzeitalters. Nicht ohne einen Hauch von Symbolik, doch im Ergebnis schlüssig und folgerichtig, erzählt Wolfgang Zechner eine Geschichte der deutschsprachigen Popmusik von 1956 bis 1999 in Form von Einzelessays zu exakt 99 mit (persönlichem) Bedacht ausgewählten Songs, gerahmt von Intro, Fazit und Ausblick. Laut diversen Websites prominent für seine „scharfzüngigen und kenntnisreichen Betrachtungen in internationalen Magazinen und Zeitschriften“, schwört der gebürtige Grazer, wohnhaft in Wien, stimulierend schon im Untertitel auf die Extreme von „Glanz und Elend“ ein, im Haupttitel Peter Schillings unverwüstlichen Major Tom (Völlig losgelöst) ironisierend. Denn „völlig schwerelos“ durch den Orbit zu schweben, gelang dem deutschen Pop-Gefährt mitnichten.

Überhaupt bildet Ironie in breiter Skalierung von augenzwinkernder Hommage an favorisierte Idole bis zu gewagterem Sarkasmus das Grundrauschen jener Historie, für die Zechner ein selbstsicheres Alleinstellungsmerkmal reklamiert: „Es ist meine deutschsprachige Pop-Geschichte.“ (S. 11) Und klarstellt: Pop in seinen Anfängen ist ein uramerikanisches Idiom. Seine Aneignung im deutschsprachigen Raum funktioniert nicht ohne Blessuren, Missverständnisse, Verwerfungen und sonstige Geburtswehen. Buchstäblich Stunde Null schlägt 1956. Elvis Presley tritt am 9. September in der Ed Sullivan Show auf und lässt einen Virus auf die Menschheit los: die Revolution des Rock’n’Roll. Zechner: „Elvis ist der Patient Zero. Die Pandemie heißt Pop.“ (S. 14) Dessen Primärmerkmale sind für Zechner exakt vier: Pop ist Jugend mit Erbgut für spätere Nostalgie, Pop ist ein stilistisch quellenreiches Produkt von Migration und Benachteiligung wie die der Schwarzen im Süden der USA, Pop ist Subversion und Widerstand gegen autoritäre Strukturen, Pop ist ein Massenprodukt und damit, unbemerkt von den meisten Fans, künstlich und pseudoauthentisch. Und wenn auch Wirtschaftswunder-Deutschland begierig danach greift, steht die ästhetische Quadratur des Kreises fest – Grundnarrativ: „Pop ist vieles. Pop ist vor allem eines: nicht deutsch.“ (S. 17)

Überschrieben sind alle 99 Porträts analog mit einem raffiniert auf das blühende Werturteil oder essentielle Problemfragen einstimmenden Gimmick, der Nennung von Interpreten und Titel sowie Nationalität (mehrheitlich BRD) und Veröffentlichungsjahr. Für sich genommen aber ist jedes der zwei- bis fünfseitigen Schlaglichter ein feuilletonistisches Kunststück, wie es individueller und im Gesamtbild kohärenter kaum sein könnte. Oft steht der thematisierte Titel nur repräsentativ für ein Sub- im Hauptgenre nebst Vita und Werkkatalog der Ausführenden und erhält seine klar definierte Position im Kontinuum. Entsprechend eruiert Zechner kenntnisreich nicht nur Vorbilder, sondern auch Ausblicke auf adaptierende Nachfahren, die auf dem Fundament manch vergessener Trouvaille Spitzenplätze mit Rekordwerten landeten. Von selbst, denn Pop ist alles andere als L’art pour l’art, versteht sich der enge Bezug zur politisch-gesellschaftlichen und mentalen Gemengelage Deutschlands von Nachkriegszeit bis Millennium. Und dass Linus Volkmann seinen Kollegen Zechner als „gebenedeit unter den Popjournalist:innen“ (Klappentext) apostrophiert, findet seinen Grund evident in einer Symbiose diverser Spitzenqualitäten. Da ist zunächst die rhetorische Explosion einer Metaphorik originellster Varianten, Verschränkungen und allegorischer Erweiterungen. Sodann frappiert der autobiographische und selbstreferentielle Zugriff (mit Geständnissen juveniler Geschmacksverirrungen bei konstanter Sympathie oder Aversion). Interaktiv erfreut auch die direkte Leseransprache. Und schlicht virtuos gelingt ein Mix von flotter, draufgängerischer, oft Spaß, Schmäh und Ernst verwischender Schreibe mit einer analytisch-vergleichenden Pointierung musikbezogener wie kulturpsychologischer Befunde – für breites Publikum ebenso zu goutieren wie für eher intellektuell Ambitionierte.

Weiträumig ist das ausgeschrittene Multiversum. Und dessen Kreis, hier nur höchst punktuell referierbar, beginnt sogleich mit jenem popularmusikalischen Pop-Antipoden, den Zechner regelmäßig konterkarierend einbettet: dem Schlager, der in den 50-ern nostalgisch und fernwehsatt Deutschlands schlimmste Vergangenheit zu camouflieren sucht, doch zwischen den Zeilen nicht von ihr loskommt. So „zapft“ Freddy Quinns Heimweh auf Position 1 „die kollektive Erinnerung der Kriegsgeneration an.“ (S. 19) Lale Andersens Ein Schiff wird kommen (Nr. 5) stellt toxischer Männlichkeit reaktionär die weibliche Unterwerfung zur Seite. Erste Anläufe, die den angloamerikanischen Pop in einen deutschsprachigen transformieren wollen, verzetteln sich für Zechner – zumal bei Coverversionen unter dem trügerischen Etikett „Deutsche Originalaufnahme“ – nicht selten in Themenverfehlungen: zu spießig konform etwa Delle Haensch und die Rockies, kreuzbrav verklemmt auch Conny & Peter. Vor allem die Industrie strebt pseudorockig und in Wahrheit schlagerschnulzig nach Monetarisierung. Wer wie Paul Würges 1957 deutsch, doch idiomatischer rockt, verpasst die Breitenwirkung. Manuela versucht es, indem sie ihren aus sexuellen Gründen weiland „schuldigen“ deutschen Bossa Nova 1964 mit künstlichem Akzent garniert. Künstlerisch höher, sehr hoch, rangiert die polyglotte Caterina Valente, am höchsten die 1969 tödlich verunglückte Alexandra. Österreichisch (Marianne Mendt und später Falco) gelingt die Pop-Aneignung überzeugender durch die doppelte Sprach-Brechung: „Minus und Minus ergibt Plus.“ (S. 223) In der DDR dümpelt Pop – Beispiel Karat – wiederum überwiegend anämisch, aber symptomatisch auf der „Stasi-Goldwaage“ (S. 131) vor sich hin. Reanimiert werden neben Gängigem dezidiert auch Solitäre (überzeugend: Karel Gott mit einem Rolling-Stones-Cover), Tabubrüche (Faschismussatiren mit Fehldeutungsgefahr), Novelty Songs, Kuriosa (Dieter Thomas Hecks Grusel-Konzeptalbum von 1981) oder ihrer Zeit vorauseilende Unikate (Bernd Clüvers von der ZDF-Hitparade abgelehnte Homosexuellen-Ballade).

Im Beat, auch im deutschen, wird regulär auf Englisch gesungen. Drafi Deutschers Marmor, Stein und Eisen bricht aber polt mit „Damdam“ 1965 die Schwäche zum Vorteil um. Ton Steine Scherben lassen 1972 auch einen deutschsprachigen Underground-Pop-Song florieren. Krautrock, dem die Fachpresse maßgeblich die Düsseldorfer Band Kraftwerk zurechnet, reüssiert darauf mit Elektronik, Stilzitaten und fragmentarischem Deutsch sogar international. Und wiederum Düsseldorf hat mit seinem Ratinger Hof ab 1977 ein Mekka des (in der Schweiz damals schon weiter gediehenen) deutschen Punks. Abseits der Industrie, die mit hausgemachten Produkten scheitert, wirkt diese revolutionäre Jugendkultur ab 1979 als Brandbeschleuniger, der „das Herz der Bewegung immer schneller (…) schlagen“ (S. 141) lässt. Im selben Jahr kreiert der Journalist Alfred Hilsberg den omnipräsenten Sammelbegriff: Neue Deutsche Welle. Auch Hannover und die sogenannte Hamburger Schule werden zu Hochburgen. Fehlfarben schaffen mit Monarchie und Alltag 1980 „das unzerstörbare Meisterwerk“ des „Punk und Post-Punk“. (S. 159) Doch schon 1983 ist es mit der genuinen NDW vorbei. Zechner resümiert: „All das führte erst zu einer kreativen Explosion, dann zu einer kommerziellen Exploitation und schließlich zu einer verheerenden Implosion.“ (S. 157) Punk erstarrt zum Kunstgewerbe.

Stand der 70-er Schlager zuvor u.a. mit Chris Roberts, Tina York und Heino für teils antilinke Restauration, mit Udo Jürgens für allenfalls bürgerlich konsensfähige Gesellschaftskritik und mit Peter Alexander für biederen Eskapismus, so läutet Nicoles Eurovisionssieg Ein bißchen Frieden (Nr. 60) 1982 faktisch das Ende jener Ära ein, in der dem deutschen Nachkriegsschlager eine humoristische Sicht auf sich selbst fehlte. Zunächst entert die kommerzielle NDW die ZDF-Hitparade, landet gewisse Charterfolge, denen ab 1983 dunklere Pop-Jahre folgen. Klaus Lages 1000 und 1 Nacht (Zoom!) aber „funktionierte“ ab 1984 „in jede Richtung“ (S. 226). Auch andere Deutschrocker wie Herbert Grönemeyer errichteten auf „den Ruinen der Neuen Deutschen Welle (…) ihre musikalischen Glaspaläste.“ (S. 235) Die Wiedervereinigung schließlich fegt selbstbewusst alle Bedenken gegen Deutschsprachiges hinweg. Parallel infiziert sich der Schlager, der sich endlich „seiner eigenen Lächerlichkeit bewusst“ (S. 262) wird, mit Selbstironie. Aus vielem Trash ragen Hape Kerkeling und Helge Schneider mit Originalität heraus. Und als Zeitzeuge Zechner mit der Gruppe Echt 1999 auch die finale 99 erreicht, sieht er den neuen „Deutschpop-Mainstream das Leben besetzen.“ (S. 314–315) Obwohl seine Sympathie für derartige Massenware und Stadionrock erlischt, verheißt er im Epilog für das internetdominierte 21. Jahrhundert neue kreative Kräfte, die, etwa im Hip-Hop, sogar den Mainstream innovatorisch beleben. Insofern: Bitte den nächsten Zechner!

Andreas Vollberg
Köln, 08.08.2025

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