Michaela Fridrich: Musik unvermittelt. Eine Utopie [Andreas Vollberg]

Michaela Fridrich: Musik unvermittelt. Eine Utopie – München: edition text+kritik, 2025. – 127 S.
ISBN 978-3-96707-738-4 : € 22,00 (kart.; auch als eBook)

Noch 2022 konnte Michaela Fridrich auf tiefgreifende Krisenphänomene des Klassikbetriebs mit Optimismus reagieren. Die Corona-Pandemie gab seit zwei Jahren den Ton an und hatte vielerlei systemische Problemfelder aus beschwiegener Latenz ans Tageslicht gezerrt. Unter der Devise Musik neu vermitteln (Zusatz: Ein Plädoyer) startete die Münchner Musikjournalistin einen Versuch, die weitgehend enttäuschenden Ergebnisse des einst idealistisch initiierten – und auch ihres – Metiers der Musikvermittlung in erfolgreichere Bahnen zu lenken. 2025 allerdings klingt dies alles resignierter, desillusionierter, doch einige Alarmstufen dringlicher. So dringlich, dass die Nachfolgeschrift in 180-Grad-Wende dumpf von Musik unvermittelt kündet. Und das Plädoyer zieht sich im Untertitel nur noch auf Eine Utopie zurück. Wie kam’s? Impulsgeber ist abermals die Pandemie, heuer die überstandene. Und wenn in jeder Krise auch eine Chance liegt, fällt die Bilanz der klassischen Musikszene in Fridrichs Lesart mehr als düster aus.

Vorab: Allen administrativ oder künstlerisch im Klassiksektor verantwortlichen, allen um die humanitären Potentiale von Musik besorgten Akteuren sei eine sofortige Lektüre ans Herz gelegt! So pessimistisch die Diagnose allgemein, so provokant manche Kritik an Personen und Charakteren – allein eine Diskussion oder reflektierendes Nachdenken könnten Synergien und Aufbrüche freisetzen und dazu ermutigen, ein noch brennendes Feuer weiterzutragen, statt dessen dysfunktionale Asche anzubeten. Fünf vor zwölf zwar, aber (noch) nicht der drohende Kollaps. „Utopie“ nämlich bedeute nicht pure Illusion, sondern potentiell reelle Einflussgröße. (Neben vielseitiger journalistischer Arbeit, großenteils für den Bayerischen Rundfunk sowie die führenden Münchner Musikhäuser und Bildungsinstitute, kommt Fridrich hier glaubhaft das eigene Rüstzeug in punkto Musikvermittlung zugute.)

In ein Angebot neuer Utopien mündet zwangsläufig der dissonant angereicherte Dreiklang des Kapitelsets. Zwar wiederholen sich leitmotivisch die akutesten Krisenbefunde. Zum einen aber formuliert Fridrich variantenreich und sachkundig, terminologisch versiert in musikologischen, betriebswirtschaftlichen oder sozialpsychologischen Belangen, präsentiert stichhaltige Belege, Untersuchungsresultate, Quellen und Stimmen aus Fach- und Insiderkreisen. Zum anderen greifen institutionelle, organisatorische und musikdramaturgische Felder derart – und zwar leider auch toxisch – ineinander, dass etliche Missstände nicht oft genug angeprangert werden, manche Wunden nicht genug Salzinfiltration vertragen können. Doch da sind in Kapitel I zunächst die „alten Utopien“ und die Frage, „was sie heute noch wert sind“. Aus mancherlei Gründen habe die klassische Musik den Nimbus des „Wahren, Schönen und Guten“ verloren – durch antiquierte Konzertrituale, Fragen der Sozialisierung, demographische Entwicklung, musealem Repertoirekanon oder problematische Inhalte wie die aus heutiger Sicht rassistischen und frauenfeindlichen Aussagen in Mozarts Zauberflöte. Zwar zeige sich der „Schwund des Publikums (…) nicht allzu dramatisch, wenn man nicht so genau hinsieht.“ (S. 20) Doch werde unter dem vermeintlichen Freibrief „Hier gilt’s der Kunst“ die Relevanz des eigenen Tuns nicht kritisch hinterfragt, solange denn die öffentlichen Gelder für’s Spitzenpersonal und großzügige Gehälter des Mittelstandes zuverlässig fließen, freie MusikerInnen und Ensembles sich hingegen von einem Förderprojekt zum anderen schleppen. Nicht nur Letztgenannte leiden, sondern – traurige Ironie – auch die besagte Kunst. Ad absurdum führen sich deren hehre Ideale zudem auf den Ebenen der Kommunikation – verschuldet durch die Ignoranz einer Klassikelite, die despektierlich vor allem auf die via GEMA zu E-Musik-Gunsten belastete U-Musik herabschaue und sich generell in einem „Desinteresse an allen“ ergehe, „die nicht dem eigenen Fortkommen nützen“. (S. 32) Ob geschlechterbedingt, ob herkunftsbedingt, sei Benachteiligung strukturell verkrustet. Unter dem Prädikat einer „Sprache des Herzens“ verberge sich in Wahrheit, wie Fridrich zuspitzt, „eine selektive, situative und funktionale Freundlichkeit, die Menschen zu Objekten degradiert“. (S. 37) Wenig Hoffnung bestehe auf Veränderung: „Alle Menschen werden Brüder (und Schwestern?) …“ (S. 38) – Fehlanzeige. Pfründe werden selbstherrlich verteidigt. Aufklärung von Übergriffen bis hin zur sexuellen Straftat gehe (wie im Kölner Fall Roth) nach langem Angstschweigen der Opfer glimpflich, ja lukrativ für die Täter aus.

Und wie äußern sich Bewältigungsstrategien und Gegenbewegungen? Nach all den derangierten Utopien beleuchtet Kapitel II die nicht weniger nüchterne Aktualität konkreter. Betroffene erkennen spät die Unterdrückungsmechanismen der längst verinnerlichten Machtverhältnisse. Und wenn Politiker gebetsmühlenartig die reine (Noch)existenz von Kultur zu einer Übung in Demokratie hochstilisieren, ohne sich um Produktion und Rezeption zu sorgen, verharrt ihr Mantra im Mythos. Auch nimmt jener personelle Braindrain seinen Lauf, als dessen Beschleuniger die Corona-Pandemie selbst qualifizierteste Kräfte nach krassen Einkommenseinbrüchen zu absurd anmutenden Berufswechseln trieb: Trambahnfahren bietet einem Naturhornisten existentielle Sicherheit, einer bis dato renommierten Sängerin das Aufatmen nach erlittenem Sexismus. Basisdemokratisch und flachhierarchisch organisierte Ensembles wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen dagegen stellen die Minderheit. Kritische Stimmen drängen auf mehr Mut zum öffentlichen Diskurs über inhaltliche Ausrichtungen, wie er für die bildende Kunst, Beispiel Documenta, selbstverständlich sei. Abstimmungen mit den Füßen vollzieht derweil das Publikum, wenn es ohnehin nicht exponentiell demographisch ausdünnt. Die Nichtbesucherforschung [sic!!!] etwa verzeichnet bundesweit nur fünf bis 15 Prozent Klassikinteressierte, denen eine popmusikalisch sozialisierte Mehrheit – was sie nicht kennt, vermisst sie legitimerweise auch nicht – gegenübersteht. Musikunterricht und Fachpresse unterlassen das Ihrige, um neben der verbliebenen Klientel, die via Klassikaffinität mitunter Bildungsdünkel demonstriert, ein junges interessiertes Publikum zu gewinnen. Statt gegenseitiger Beschwichtigung und substanzloser Anbiederungsversuche wie Rankings, Likes und Werbetricks (ein Musiker outet sich als Fußballfan – Multiplikatoreffekt gleich null) müsse es heißen: Raus aus der Klassikblase, hin zu den Menschen im Land und ihren gesellschaftlich drängenden Fragen! Offensiv Flagge zeigen gegen Narzissmus und Verantwortungslosigkeit, denen sich viele Engagierte infolge autoritärer Prägungen bereits zu Hochschulzeiten oft kritiklos ausliefern! Zuwenig investigativ agiere ein affirmativer Journalismus. Nur kontraproduktiv schließlich bleiben Versuche, „einem Bereich die Regeln des Marketings aufzuzwingen, der sich seiner Ökonomisierung vom Wesen her widersetzt wie die Klassik“, etwa wenn sie „sich dem Diktat von Facebook, TikTok, Instagram & Co.“ (S. 82) unterwirft und die Vermittlung von Essenz und Qualität mit niedrigschwelliger Effekthascherei verwechsele.

Auch beim Entwickeln neuer Utopien in Kapitel III reißt die Philippika wider die erstarrten Strukturen und reformscheuen Chefetagen nicht ab. Doch Utopie könnte hier, ohne jeden apodiktischen Anspruch, einen Ideenraum für Veränderungen bieten. Dezidiert beruft sich Fridrich auf bedenkenswerte Thesen der Musikpädagogin Alexandra Kertz-Welzel. Sensibilität gegenüber sozialen und gesellschaftlichen Belangen müsse einhergehen mit einem neuen Kulturbegriff, der logistisch etwa die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen berücksichtigt, programmatisch die Trennung von E und U zur Disposition stellt und explizit die Neue Musik aus dem ästhetisch selbstzentrierten Elfenbeinturm hin zu humanitär virulenten Inhalten führt. Exemplarisch für genuine Gleichstellung der Geschlechter z.B. stehe die Praxis des Kölner Netzwerks für experimentelle Musik ON Cologne. Mit dem Einwand, zumindest die Musikvermittlung habe doch dank gezielter Präsenz in den urbanen Räumen viel erreicht, geht Fridrich nur bedingt d‘accord. Statt Feigenblätter zu züchten, die letztlich das überkommene System bestärken, sei ein grundlegend neues Mindset nötig: die Bereitschaft zum „Risiko (…), aus dem eigenen Dunstkreis herauszutreten.“ (S. 116)

Wer über eigene oder abweichende Erfahrungswerte verfügt, möge ein Szenario von derart dystopischer Wucht und geharnischter Anklage diskutieren oder relativieren. Doch wer sich selbst und seine Attitüde auch in nur einigen Punkten wiedererkennt, sollte mitdenken, aufbegehren oder womöglich umkehren. Erst dann würde, so Fridrichs zentrale Schlussvision, der Klassikbetrieb zu einem „Ort, an dem unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und Erfahrungshorizonte (…) neue Räume der Begegnung, Entfaltung und des Austauschs finden können.“ (S. 124)

Andreas Vollberg
Köln, 22.04.2025

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